Aljoscha der Idiot
Sieben-Köpfe-Zyklus hervor: „Hier, fertig für den neuen Scheiß!“ Während Pjotr sich Nick Cave anhörte, las Aljoscha den Traktat. Es war eine Grundsatzerklärung, die sagte: trotz allem steckt in mir der Wurm, und es gilt ihn ausfindig zu machen und ein für allemal zu töten. Eine Deklaration Pjotrs an sich selbst, die wilden Zurufe aus dem Herzghetto übersetzt in den Voranschlag einer Entwicklung. Bilder und Gedanken, die Pjotr bei sich getragen hatte wie Munition. Der Fluch der Vergangenheit, jeden Morgen mußte man dieselben Büffel aus dem Garten schieben. Aber auch eine Explosion, ein früheres Leben in der Autopsie. Ein Bauplan des Unglaublichen.Eine Faustskizze als Faustpfand auf die Zukunft. Am Ende des Reigens dieser Zustände wartete ein Anfang, und Pjotr kannte ihn. Ein alter Glaube war noch nicht versunken, es war die Idee des sechsten Kopfes, auf die Aljoscha starrte wie ein Archäologe auf eine freigelegte Inschrift: das Rätsel der Sphinx. Das Rätsel der Sphinx ist, daß man sich nicht von ihr lösen kann.
„Was heißt denn Kicking Against The Pricks ?“ fragte Pjotr.
„Wider den Stachel löcken“, murmelte Aljoscha.
„Hä?“ sagte Pjotr und betrachtete das Cover.
Was bedeutet die Sieben? Sieben Öffnungen in jedem Kopf. Sechs der sieben Köpfe waren so gestaltet, daß man in sie hinein sehen konnte. Ihre innere Beschaffenheit, die Natur ihrer Operationen, ihre Abgründe und ungeahnten Dimensionen, all das war sichtbar gemacht. Nur ein Kopf war nicht einsehbar: der Kopf der Sphinx.
Und so sprachen sie denn über offene und geschlossene Köpfe.
„In manchen alten Kulturen“, sagte Aljoscha, „haben die Heiler den Besessenen ein Loch in den Schädel gebohrt, damit die bösen Geister entweichen konnten.“
„Ein Weg hinaus ist auch ein Weg hinein“, sagte Pjotr.
„Ja, das haben sie nicht bedacht“, sagte Aljoscha.
„War ihnen wahrscheinlich auch nicht glaublich, was die Gehirnwindungen so fassen.“
Draußen produzierten flächendeckende Blitze Blöcke von Licht, und ein kurzer Eisregen ging nieder, der nicht wie Eisregen klang, sondern so, als ob ein verrückter Kartenspieler unterm Fenster saß und wie blödsinnig die Karten mischte.
„Wider den Stachel löcken – biblisch, was?“ fragte Pjotr.
„Gilt für den Fall, daß man ein Esel ist, glaube ich“, sagte Aljoscha.
„Naja, du warst ja einer, kürzlich.“
„In der Bibel gibt es irgendwo einen Esel, der den Engel sieht.“
Ein leises wissendes Lachen in der Stille lachte sich selbst, aber niemand beachtete es.
„Weißt du, wie mir das Leben vorkommt?“ fragte Pjotr. „Da ist ein Tisch, auf dem alle Fakten liegen. Und wir laufen um den Tisch herum und spielen Reise nach Jerusalem.“
„Spielt man die nicht mit Stühlen?“
„Und wie wir da so rennen, wird uns klar: am quirligsten sind wir immer kurz vor dem Zusammenbruch.“ Pjotr versenkte die Plattenspielernadelnochmals in der A-Seite von Kicking Against The Pricks. „Dieses Stück hier klingt wie etwas, das eine Beerdigung nach sich zieht.“
„Würdest du dafür sorgen, daß ich diese Platte mal als Grabbeigabe bekomme?“
„Kann nicht schaden. Was würde ich denn nehmen? Vielleicht Bleistift und Notizblock, falls sie mir im Jenseits noch erzählen, was eigentlich die Aufgabe meines Lebens war.“
„Ich hab mal einem Wildfremden erklärt, was die Aufgabe meines Lebens ist.“
„Ja?“
„Ja“, sagte Aljoscha. „Ich saß mit Leda in einem Café, und dieser Mann kam an unseren Tisch und fing einfach an zu reden… er hatte seltsame Teesorten verkauft in seinem Laden… dann mußte er den Laden schließen. Er erzählte uns, daß er jetzt nach Japan wolle, um sein Ideal zu finden. Sein Ideal war, sich bei einer Schale Tee über die Regentropfen auf einem Blütenblatt zu freuen. Er ist nicht bis nach Japan gekommen… ich sehe ihn noch manchmal durch die Fußgängerzonen schlurfen… jedenfalls, damals fragte er mich: ‚Was ist mit Ihnen? Was ist der Sinn Ihres Lebens? Was sagt ein Philosoph dazu?‘ Und ich sagte ihm, daß er der Philosoph ist. Der Sinn meines Lebens… ich sagte, er sitzt neben mir.“
„Das war eine gute Antwort.“
„Nicht für ihn.“
„Für dich war es die beste.“
„War es.“
„War es?“ fragte Pjotr.
Aljoscha lächelte matt. Was bleibt dem Mann, der den Himmel aufreißt? „Es ist die beste Antwort, solange mein Wille will, daß ich das will.“
„Klingt wie mentaler Bürgerkrieg.“
„Mein
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