Aljoscha der Idiot

wir alle trinken.“
    „So etwa.“
    „Ich glaube, was durch alle Zeiten wabert, ist die Idee, daß wir dem Glück mißtrauen müssen. So ein orakelhaftes Murmeln: Du suchst dein Glück? Das wird sich rächen.“
    „Wir kapieren doch vor allem eins nicht“, meinte Pjotr. „Schuld und Schuldgefühl entstehen aus Veränderung. Das zu begreifen, wäre mal ein echter Stiefeltritt in den Hintern der Menschheit.“
    „Ich habe nichts gegen einen Stiefeltritt, wenn es der richtige Stiefel ist.“
    „Schuld bedeutet, daß du irgendwem etwas schuldest, oder? Und du kannst ja wohl nur dann etwas schuldig bleiben, wenn etwas erwartet wird von dir. Du bist dem Gesetz oder einer Person ein Verhalten schuldig. Gesetz mal beiseite, aber bist du einer Person schuldig, daß du jederzeit der bist, für den man dich hält? Schlägst du einen Weg ein, verläßt du einen Weg. Und schon stehen sie da und warten, während du ein anderer wirst. Und was du vorher warst, bleibst du ihnen schuldig. Veränderung, kapiert?“
    „Das leuchtet mir schon ein. Aber man kann doch auch sagen, daß es Schuld überhaupt nur geben kann, wenn man die Zeitschleusen früh dichtmacht.“
    „Wenn man die Zeitschleusen früh dichtmacht? Wie macht man das denn?“
    „Wenn man sagt, hier ist einer, der ist schuld an etwas, dann hat man die Schleuse geschlossen. Und dahinter liegt, was daran schuld ist, daß einer schuld an etwas ist.“
    „Auch wahr. Aber kein Richter will die Geschichte des Universums hören.“
    „Nein.“
    „Einen Anfang gibt es schon.“
    „Aber wenn immer Klarheit über diesen Anfang herrschen würde, wie kommt es, daß wir Ströme von Schuld ins Herz der anderen leiten können?“
    „Das ist jetzt schon die dritte Wassermetapher, die du innerhalb von zwei Minuten mit der Schuld verbindest. Wäre ich ein Psychoklempner, würde ich sagen, du willst irgendwas verwässern.“
    „Nein.“ Gott war dabei, irgendwas durch den geöffneten Fensterspalt zu stopfen. „Seltsam… Laß keinen sagen, daß du schuldig bist, wenn das, was schön war, jetzt verdorben ist… das war einer der ersten Sätze in diesem Film.“
    „In welchem Film?“
    „ Katzenmenschen .“
    Geister ohne Heim suchen heim. Un-ent-wegt. Das heißt: immer auf ihrem Weg.
    „Leda zu lieben, das war die Welt, die der Wille mir erbaut hat. Liebe, nicht als schönes Wort betrachtet. Schöne Worte sind zum Totlachen. Es war mein Wille, er hatte es beschlossen. Jetzt verstehe ich, daß etwas Entsetzliches darin liegt.“
    „Worin?“
    „Es beschlossen zu haben.“
    Es gibt Zeitphasen, in denen eine Art Volumen lastet und nur langsam weicht, wie der Schatten eines Goliath.
    „Und außerdem, ich habe meine Wüste mitgebracht hinter die Tore der Stadt.“
    Es gibt Zeitphasen, in denen die Zeit aus Partikeln besteht, die sich zu Treibsand häufen, und man versinkt darin.
    „Die Astronomen“, sagte Pjotr schließlich, „beobachten Gestirne, die Tausende, was sage ich, Hunderttausende von Lichtjahren entfernt sind… aber sie sehen den Stern nur so, wie er damals war, als sein Licht auf die Reise ging. Es ist möglich, daß wir von der Erde aus etwas sehen, das es da draußen schon lange nicht mehr gibt. Wir betrachten das Sein, und es kann schon lange Nichtsein sein.“
    Man fragt sich, was an anderen Orten vorgeht.

21
    Mit einem Schokoladencroissant aus Schokolade, Croissant und Pappe, das ihm als Frühstück diente, hastete Aljoscha am folgenden Dienstagmorgen, Sterben und Tod hinter sich, dem Hauptgebäude entgegen. Er hoffte, daß alles nach Plan lief. Er konnte sich nur nicht mehr daran erinnern, wie der Plan war. Sie hatten ihn letzte Nacht geschmiedet, diesen Plan, mit dem Pjotr in die Poussin-Vorlesung eingeschleust werden sollte. Sie hatten einfach zu lang an diesem Plan gefeilt.
    Aljoscha erreichte den Korridor und sah Pjotr an einem der Fenster stehen. Die Katzenmenschenfrau war nicht zu sehen. Trotzdem ging Aljoscha weiter, als würde er Pjotr nicht kennen.
    „Verzeihen Sie!“ rief Pjotr.
    Aljoscha wandte sich um. „Ja?“
    „Hätten Sie wohl freundlicherweise Feuer für mich?“
    Genau nach Plan. Nur hatte Pjotr offensichtlich die Zigarette vergessen.
    „Gewiß“, sagte Aljoscha, trat auf Pjotr zu und suchte in seinen Taschen nach Streichhölzern, einer Zigarette, einem Chinaböller, irgendwas. Sie konnten jetzt mit gedämpften Stimmen reden. Alles lief nach Plan. Welchem auch immer.
    „Schön, wie gehen wir nun vor?“ begann Aljoscha.
    „Ich