All the lonely people
die Idee kam, bei ihm Einsamkeit zu vermuten. Sogar während der Beratungsstunde erzählte er viel und schnell, damit keine Pause entstand und ich ihn am Ende nach seinen Gefühlen gefragt hätte. Schließlich kam er wegen dieser merkwürdigen Herzbeschwerden. Nichts Organisches, meinte sein Arzt. Meine Vermutung: Akute Einsamkeit hinter der Action-Maske.
Die Entscheider-Maske
E insam? Aber ich bitte Sie, an der Spitze ist die Luft einfach dünner. Das erfährt doch jeder, der es im Job dorthin geschafft hat und eine wichtige Position besetzt, Entscheidungen fällt, Verantwortung trägt, im Blick der Öffentlichkeit steht. Da ist nichts mehr mit kuscheliger Kollegialität. Auf Augenhöhe sind ohnehin nur wenige – und wer weiß, ob die nicht heimlich auf die eigene Position oder auf Insider-Informationen scharf sind. Small Talk und Fachgespräche, okay, das ist gut fürs Betriebsklima oder die Darstellung von Kompetenz. |62| Aber sonst wird aufgepasst, dass nicht wirklich Wichtiges verraten wird.
Es geht auch nicht an, dass man andere in seine Probleme einweiht. So etwas spricht sich herum und am Ende wird man für unfähig oder wenig belastbar gehalten. Schließlich hat man einen Ruf als Macher oder Macherin zu verlieren. Deshalb ist es ein Gebot der Klugheit, niemanden an sich heran zu lassen.
Und schon sitzt sie fest, die Maske der Männer und Frauen in Führungspositionen: Selbstsicher, tough, oft arrogant, gar elitär. Sie verbirgt das wahre Gesicht, das auch Schwächen, Verletzlichkeit und Unsicherheit offenbaren würde. Und das man zeigen müsste, um anderen Menschen wirklich näherzukommen.
Die Biografien der inzwischen erwachsenen Kinder hochrangiger Politiker, etwa von Lars Brandt oder Walter Kohl, zeigen auf erschütternde Weise, wie sehr sich die Härte der Entscheider-Maske bis ins Privatleben auswirkt – weil ihre Träger und Trägerinnen sie irgendwann nicht mehr abnehmen können.
Die Sex-Maske
D er kurzfristige Wechsel verschafft die Illusion, nicht allein zu sein. Wenn schon keine echte Verbindung zustande kommt, dann wenigstens körperliche Nähe. Indem man immer wieder One-night-stands hat oder Affären eingeht, beweist man sich und anderen, dass man gefragt ist. Leider bleibt von diesen kurzen Verbindungen oft nichts weiter zurück als ein schaler Geschmack.
Normalerweise ist die
Bild
-Zeitung nicht gerade meine Informationsquelle erster Wahl, doch vor einiger Zeit brachte sie einen großen Artikel über Frauen, die mit vielen Männern geschlafen hatten. Die freimütigen Aussagen dieser Frauen machten mich betroffen. Nicht etwa aus moralischen Gründen – ich finde, jeder Mensch soll sein Liebesleben nach seinem Gusto gestalten –, sondern weil ich aus den Sätzen eine unglaubliche Einsamkeit und Traurigkeit herauslesen konnte. Die Frauen boten ihren Körper an, um Nähe und Zuneigung zu gewinnen, und wurden doch nur ausgenutzt. Inzwischen waren |63| einige von ihnen sehr verletzt und verbittert. Mit Sexualität Einsamkeit zu verbergen, ist aber keineswegs nur Frauensache. Ich kenne auch Männer, die versuchen, ihr Einsamkeitsgefühl mit möglichst vielen erotischen Abenteuern zu kompensieren.
Die Sozial-Maske
I n der Maske des Altruismus vermitteln wir uns selbst und anderen die Illusion, gebraucht zu werden und einen festen Platz im sozialen Gefüge zu haben. Mit echtem Engagement hat das wenig zu tun, wohl aber viel mit Einsamkeit. Dabei sieht die Sozial-Maske auf den ersten Blick überhaupt nicht nach Einsamkeit aus. Schließlich hat ihre Trägerin oder ihr Träger immer jemanden zum Kümmern an der Seite.
So wie damals meine Kommilitonin Annette. In unserer Arbeitsgruppe zeigte sie eine ausgesprochen mütterliche Art. Wenn sie ihren besorgten Blick auf mich richtete und sagte: »Ist alles in Ordnung? Du siehst blass aus!«, dann fühlte ich mich auf der Stelle schlecht und nahm dankbar den Vorschlag an, mit ihr einen Kaffee zu trinken. Annette war für ihre Florence-Nightingale-Attitüde bekannt. Sie nahm jede Möglichkeit wahr, sich emotional unentbehrlich zu machen. Ständig betreute sie irgendwen, der unter Liebeskummer litt, oder bot Leuten Asyl, die gerade ohne Job oder Dach über dem Kopf waren. Eines Tages schleppte ihr ein flüchtiger Bekannter sogar vier noch nicht stubenreine Welpen an und bat sie, auf die Hundebabys aufzupassen, derweil er auf Reisen ging. Annette sagte zu allem Ja und Amen. Nur einmal, als sie bei einem Unifest zu viel Rotwein getrunken hatte, brach
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