All the lonely people
kürzlich hautnah. Die S-Bahn von der Münchner Innenstadt zum Flughafen braucht eine knappe Stunde. Während ich so tat, als sei ich in eine Zeitung vertieft, konnte ich beobachten, wie ein älterer Herr ein Gespräch mit |86| einer ihm gegenübersitzenden Frau mit Reisegepäck begann. Zunächst erkundigte er sich, wo sie denn hinfliegen wolle. Sie antwortete freundlich und aufgeschlossen. Nach einigen Fragen hin und her hatte der alte Herr endlich das Stichwort für sein offensichtliches Lieblingsthema. Er erzählte seiner Nachbarin lang und breit seine Kriegserlebnisse. Dabei ignorierte er völlig ihre Versuche, das Thema zu wechseln. Ihre ganze Körpersprache drückte aus, dass sie am liebsten geflüchtet wäre. Aber sie konnte das einseitige Gespräch nicht beenden, ohne unhöflich zu sein. Also hielt sie aus. Als die Bahn am Flughafen ankam, schoss sie förmlich aus der Tür. Und der alte Herr stand einsam und verloren auf dem Bahnsteig. Mir tat es weh, ihn so zu sehen. Ich hatte den Eindruck, dass er extra zum Flughafen gefahren war, um unter Menschen zu sein. Er wusste wohl nicht, dass er wirkliche Begegnungen verhinderte, indem er nur um sich kreiste.
Zuhören, Hilfe anbieten – was schon in jungen Jahren anziehend wirkt, gilt auch für die älteren Semester. Als eine Frau einmal klagte, im Alter kümmere sich kein Mensch mehr um einen, antwortete ihre glücklichere Bekannte kurz und präzise: »Nun, dagegen gibt es ein gutes Mittel: Kümmern Sie sich doch um andere.«
Einsamkeit zu Beginn der Lebensphasen ist natürlich
H aben Sie sich in einer der beschriebenen Phasen wiedergefunden? Dann hoffe ich, dass Sie Ihre gegenwärtige Einsamkeit dadurch inzwischen in einem etwas anderen Licht sehen: Zunächst einmal ist sie ein Zeichen, dass Sie lebendig sind. Wenn Sie sich innerlich und meist auch äußerlich zurückziehen, reagieren Sie damit ganz natürlich auf veränderte Verhältnisse. In diesem Sinne ist das Leben mit einer Schule vergleichbar. Erinnern Sie sich noch, wie es Ihnen damals ging? Zu Beginn jedes neuen Schuljahres waren wir erst einmal aufgeregt. Wir wussten noch nicht genau, neben wem wir sitzen und welche Lehrer wir bekommen würden, ob wir die neuen Anforderungen überhaupt erfüllen könnten. Und ein bisschen trauerten wir den alten, vertrauten Verhältnissen in der vorigen Klasse nach. Mit dem Anfang jeder neuen Lebensphase ist es, als ob wir in eine neue Klasse kommen. Als Kinder übertönten wir unsere Ängste vor dem Unbekannten laut und lebhaft. Als Erwachsene reagieren wir eher, indem |88| wir verwirrt, deprimiert oder einsam sind. Das ist unser gutes Recht. Schließlich müssen wir uns erst einmal mit den neuen Gegebenheiten arrangieren.
Wenn es sich tatsächlich um eine Schule höherer Ordnung handelt, dann werden wir ja auch mit jeder bewältigten Phase klüger. Für mich bedeutet es immer ein großes Glück, plötzlich etwas zu verstehen und Zusammenhänge zu erkennen. Ich bin sicher, Ihnen wird es genauso gehen. Mit jeder Anstrengung ist auch eine Belohnung verbunden. Wenn Sie daran festhalten, fällt es Ihnen sicher leichter, der Einsamkeit in den verschiedenen Lebensphasen zu begegnen.
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Einsam ohne Partnerschaft
E insam, nur weil Sie keinen Mann oder keine Frau an Ihrer Seite haben? Früher war es tatsächlich kein Vergnügen, Single zu sein. Einsamkeit, zumindest aber Alleinsein, war damit oft schon vorprogrammiert, weil man ohne Partner oder Partnerin wenig galt. Diese Zeiten sind glücklicherweise längst vorbei. Heute können wir die Lebensform wählen, in der wir uns am wohlsten fühlen. Vielleicht genießen Sie gerade Ihre Freiheit und sind glücklich, dass Sie unabhängig sind. Genauso berechtigt ist es, wenn Sie sich danach sehnen, Ihr Leben, Ihre Gefühle, Ihre Freude und Ihren Kummer mit einem Partner oder einer Partnerin zu teilen.
Sehnsucht
D ie Einsamkeit ohne Partner ist vielleicht nicht ständig präsent. Ein guter Freundeskreis oder ein interessanter Beruf können sie zeitweise überdecken. Doch in vielen Fällen durchzieht die Sehnsucht nach einem Menschen, der zu einem gehört, das Lebensgefühl. Manchmal taucht sie blitzartig auf: Sie stehen wartend an der Ampel. Neben Ihnen küsst sich ein Paar liebevoll und selbstvergessen. Oder im Radio wird zufällig dieses Lied gespielt, das Sie damals zu zweit so oft gehört haben.
Der griechische Philosoph Platon hat diese Sehnsucht in einem Mythos beschrieben: Einst waren Männer und Frauen zu einem
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