Allan Quatermain
ganzem Herzen liebt und dann so schamlos von ihr in Versuchung geführt wird.« Darauf wandte er sich um und ging.
»Hör mal, alter Knabe«, rief ihm Sir Henry nach, »warte noch einen Augenblick. Auch ich habe dir eine kleine Geschichte zu erzählen.« Und dann berichtete er Good, was sich tags zuvor zwischen ihm und Sorais abgespielt hatte.
Das war einfach zuviel für den armen Good. Es ist sicher für keinen Mann angenehm, zu hören, daß man ihn lediglich als ein Mittel zum Zweck mißbraucht hat, aber wenn die Umstände gar noch so schlimm sind wie im vorliegenden Fall, dann ist das schon eine verdammt bittere Pille.
»Wißt ihr«, sagte er, »ich glaube, ihr Burschen habt euch untereinander schon irgendein Heilmittel ausgedacht.« Und dann drehte er sich wieder um und ging. Ich für meinen Teil hatte großes Mitleid mit ihm. Ach, wenn doch die Motten besser aufpassen könnten, daß sie nicht zu nah ans Licht kommen; wie wenig verbrannte Flügel würde es dann geben!
Jener Tag war ein sogenannter Hoftag. Die Königinnen pflegten dann im Palast zu sein und Bittschriften entgegenzunehmen, Gesetze zu besprechen, Zuschüsse zu bewilligen usw. Mit einiger Verspätung begaben auch wir uns in die Halle. Unterwegs trafen wir auf Good, der einen äußerst deprimierten Eindruck machte.
Als wir die Halle betraten, saß Nylephta schon, umringt von Beratern, Höflingen, Rechtskundigen und Priestern, wie gewöhnlich auf ihrem Thron und erledigte ihre Geschäfte. Die Leibgarde war jedoch weit stärker als sonst. Es war indessen ganz deutlich zu erkennen, daß keiner der Anwesenden so recht mit den Gedanken bei der Sache war; in den Gesichtern aller Anwesenden zeichnete sich Erregung und Erwartung ab. Es hatte sich nämlich inzwischen im ganzen Lande herumgesprochen, daß ein Bürgerkrieg unmittelbar bevorstand. Wir begrüßten Nylephta und nahmen unsere gewohnten Plätze ein. Und für eine Weile nahm auch alles seinen gewohnten Gang, bis plötzlich von draußen der Klang von Fanfaren erscholl und unmittelbar darauf die Menge, die sich dort in Erwartung eines außergewöhnliches Ereignisses versammelt hatte, laut »Sorais, Sorais« brüllte.
Dann hörte man das Rumpeln von zahlreichen Streitwagen, und gleich darauf teilte sich der große Vorhang am Eingang der Halle, und herein schritt die ›Herrin der Nacht‹ höchstpersönlich. Sie kam jedoch nicht allein. Ihr voran schritt Agon, der Hohepriester, der seine kostbarsten Gewänder trug, und zu ihrer Linken und Rechten befanden sich weitere Priester. Die Gründe für die Anwesenheit der Priester lagen klar auf der Hand – in dem Falle wäre es nämlich ein Sakrileg gewesen, sie zu verhaften. In ihrem Gefolge befand sich eine Artzahl mächtiger Fürsten, und hinter ihnen kamen mehrere sorgsam ausgewählte Wachsoldaten. Ein kurzer Blick auf Sorais genügte schon, um zu wissen, daß sie nicht in friedlicher Absicht gekommen war; denn sie trug nicht wie gewöhnlich ihren goldbestickten »Kaf«, sondern statt dessen ein glitzerndes Gewand aus goldenen Schuppen, und auf ihrem Kopf trug sie einen kleinen goldenen Helm. In der Hand hielt sie einen herrlich gearbeiteten Spielzeugspeer aus reinem Silber. In ihrem Stolz und ihrer Schönheit wirkte sie wie eine Löwin, als sie so erhobenen Hauptes durch die Halle schritt. Als sie näherkam, wichen die Schaulustigen unter tiefen Verbeugungen zurück und machten ihr Platz. Vor dem heiligen Stein hielt sie an, legte ihre Hand darauf und rief laut Nylephta ihren Gruß zu: »Sei gegrüßt, o Königin!«
»Sei gegrüßt, meine königliche Schwester!« rief Nylephta ebenso laut zurück. »Komm näher heran zu mir, ich gebe dir freies Geleit.«
Sorais warf ihr als Antwort einen hochmütigen Blick zu, und dann schritt sie durch die Halle, bis sie vor den Thronsesseln stand.
»Ich muß mit dir sprechen, o Königin!« rief sie.
»Sprich, meine Schwester; was kann ich dir, die die Hälfte unseres Königreiches besitzt, geben?«
»Du kannst mir die Wahrheit sagen – mir und dem Volke von Zu-Vendis. Willst du also – oder willst du es nicht, diesen fremdländischen Wolf ...« – dabei zeigte sie mit ihrem Spielzeugspeer auf Sir Henry – »zum Gemahle nehmen, auf daß er dein Bett und deinen Thron mit dir teile?«
Bei diesen Worten zuckte Sir Henry zusammen. Er wandte sich zu Sorais und sagte leise: »Ich erinnere mich gut daran, o Königin, daß du gestern noch andere Namen als ›Wolf‹ für mich hattest.« Das Blut schoß ihr in den
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