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Allan Quatermain

Allan Quatermain

Titel: Allan Quatermain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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jener endlos lang erscheinenden Nacht dort zu sitzen und nicht zu wissen, ob man nun einen Versuch wagen würde, sie zu befreien, oder nicht. Und eigentlich habe sie auch gar nicht mehr damit gerechnet, wohl wissend, wie wenige wir waren und wie viele die Masai – die außerdem alle paar Minuten zu ihr kamen und sie anstarrten. Die meisten von ihnen hatten noch nie in ihrem Leben eine Weiße gesehen, und sie fingerten pausenlos mit ihren dreckigen Pfoten an ihren Armen und Haaren herum. Auch sagte sie mir, sie sei fest entschlossen gewesen, sich zu erschießen, sobald die ersten Strahlen der Morgensonne den Kraal erreichten und bis dahin noch keine Hilfe eingetroffen war. Das Kindermädchen hatte nämlich den Lygonani sagen hören, daß man sie zu Tode foltern wollte, sobald die Sonne aufging, wenn nicht bis dahin an ihre Stelle einer der weißen Männer getreten wäre. Es war ein schrecklicher Entschluß gewesen, aber sie hatte die feste Absicht gehabt, ihn auch in die Tat umzusetzen, und ich zweifle keinen Moment daran, daß sie es auch getan hätte. Obwohl sie in einem Alter war, in dem in England die Mädchen noch die Schulbank drücken und brav zum Mittagessen erscheinen, hatte dieses ›Kind der Wildnis‹ mehr Courage, Besonnenheit und Geistesgegenwart als manch eine Frau reiferen Alters, die in Bequemlichkeit und Luxus aufgewachsen ist; deren Geist sorgfältig gedrillt und geschliffen wurde, fernab jeglicher Originalität und geistiger Wendigkeit, mit der die Natur sie vielleicht ausgestattet hatte.
    Nach dem Frühstück begaben wir uns alle ins Bett und schliefen fest bis zum Dinner. Danach machten wir uns zusammen mit allen verfügbaren Kräften – Männern, Frauen, Knaben und Mädchen – erneut auf den Weg zu dem Orte unserer morgendlichen Schlacht, mit der Absicht, unsere Toten zu begraben; die Leichen der Masai wollten wir loswerden, indem wir sie in den Tana warfen, der nur etwa fünfzig Yards an dem Kraal vorbeifloß. Als wir die Stelle erreichten, scheuchten wir Tausende von Aasgeiern und ganze Schwärme von braunen Buschadlern auf, die sich aus allen Himmelsrichtungen zum Festmahl eingestellt hatten. Schon oft hatte ich die Gelegenheit, diese riesigen, widerwärtigen Vögel zu beobachten, und die Geschwindigkeit, mit der sie am Ort einer Schlacht eintreffen, hatte mich immer in Erstaunen versetz. Kaum hat man einen Bock mit dem Gewehr erlegt, da taucht schon, oft innerhalb von nur einer Minute, ein dunkler Fleck hoch oben im blauen Äther auf, der sich rasch als Geier entpuppt. Und schon kommt der nächste, und blitzschnell ist ein ganzer Schwarm von ihnen da. Ich habe viele Theorien über die wundersame Wahrnehmungsfähigkeit gehört, die die Natur diesen Vögeln mitgegeben hat. Meine eigene Theorie, die sich zum größten Teil auf Beobachtungen gründet, ist folgende: Die Geier, die meiner Ansicht nach mit einer Wahrnehmungsfähigkeit ausgestattet sind, wie sie vom Menschen selbst mit dem schärfsten Fernglas nicht erreicht werden kann, teilen untereinander den Himmel in verschiedene, etwa gleich große Abschnitte auf. Dann schweben sie in riesigen Höhen über der Erde – wahrscheinlich zwischen zwei und drei Meilen hoch –, und jeder von ihnen hält sorgsam über ein gewaltiges Gebiet hinweg ständig Ausschau. Sobald nun einer von ihnen irgendwo Nahrung sieht, läßt er sich sofort an der betreffenden Stelle herabsinken. Daraufhin folgt sein nächster Nachbar, der vielleicht in einem Abstand von ein paar Meilen gemächlich durch die luftigen Höhen segelt, seinem Beispiel, da er nun weiß, daß Nahrung gesichtet worden ist. Und schon schießt er herab, und all die anderen Geier in seiner Sichtweite folgen ihm, und desgleichen tun wiederum die, welche die letzteren hinabschießen sehen. Auf diese Weise können alle Geier in einem Umkreis von zwanzig Meilen in Minutenschnelle zum Festmahl zusammengerufen werden.
    Wir begruben unsere Toten in feierlicher Stille. In Abwesenheit von Mr. Mackenzie, der ans Bett gefesselt war, wurde Good dazu ausersehen, den Totengottesdienst für sie zu lesen, da er nach der Meinung aller die beste und eindrucksvollste Stimme besaß. Die Andacht war in höchstem Maße melancholisch, aber, wie Good sagte, es hätte schlimmer kommen können; denn nur zu leicht hätten wir ›uns selbst zu Grabe tragen‹ können. Ich wies darauf hin, daß dies ein fürwahr schwieriges Kunststück gewesen wäre, aber ich wußte natürlich, was er damit sagen wollte.
    Als nächstes

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