Alle Familien sind verkorkst
Stunde später holte Nickie Janet am Haupteingang des Hotels ab, vor dem ein Kommen und Gehen herrschte wie auf der Pennsylvania Station. Janet trug eine voluminöse schwarze Sonnenbrille in dem Stil, der von Rockstars und Hollywood-Agenten über siebzig favorisiert wird, und jugendliche, GAP-mäßige Klamotten. Wenn man nur nach meiner Garderobe urteilt, könnte ich als fünfundzwanzigjährige männliche Bedienung eines Coffeeshops in St. Paul, Minnesota, durchgehen.
Nickie fragte: »Kommt Gwendolyn?«
»Gwendolyn?«
»Shw klingt einfach zu blöd.«
»Da ist sie schon.«
Shw schwang sich auf den Rücksitz und begrüßte sie mit einem sparsamen kleinen Grunzen.
»Eigentlich hab ich ganz gute Laune«, sagte Shw. »Verstehen Sie mein Grunzen nicht falsch.«
»Und - was gibt's Neues?«, fragte Nickie sie.
»Bryan wollte, dass ich mit ihm nach Mauschwitz fahre. Er hat mich geradezu angefleht. Ich fand das ekelhaft.«
Janet wechselte das Thema. »Der Page, der die Autos parkt, sieht wirklich gut aus.«
Nickie sagte: »Nein, Sie sind bloß geil. Das ist alles.«
»Endlich mal jemand, der mich als sexuelles Wesen behandelt!«
Sie fuhren los. Janet sah zu, wie die Landschaft vorbeischmolz. Nickie fragte: »Steht heute irgendeine NASA-Veranstaltung auf dem Plan?«
»Nein. Wir haben freie Bahn.«
»Hm.« Der Wagen blieb zwischen lauter Wohnmobilen und roten und weißen Mietwagen an einer roten Ampel stehen. »Sarah ist ganz schön helle, was?«, fragte Shw.
»Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig.«
»Aber hat sie auch die nötigen Ellenbogen?«
Janet überlegte. »Ich schätze, selbst als Astronautin hat man mit einem gewissen Maß an Verrat und Intrigen zu tun. Denk nur mal an die Hunderte von Menschen, die nicht für den Shuttle-Flug ausgewählt wurden.« Sie verfiel in ihren gewohnt oberlehrerhaften Ton. »Aber Astronauten werden nach ihrer Ausgeglichenheit selektiert, so wie Hunde von Züchtern selektiert werden - Astronauten sind die schwarzen Labradore der Raumfahrt.«
Shw fragte: »Glauben Sie, Sarah ist nur ausgesucht worden, weil sie behindert ist?«
»Du bist der einzige Mensch, der diesen Satz je ausgesprochen hat«, sagte Janet.
»Das ist doch eine ganz natürliche Frage.«
»Ich weiß. Ich bin es so satt, dass die Leute bestimmte Dinge totschweigen. Das erinnert mich an meine Kindheit. Es raubt einem die Luft zum Atmen.«
»Wie war das eigentlich?«, fragte Nickie.
»Wie war was}«
»Sarah. Die fehlende Hand und all das.«
Janet konzentrierte sich darauf, eine korrekte Antwort zu geben. »Als ich klein war, wurde ich ständig ermahnt, ich solle ein braves Mädchen sein und hübsch aussehen. Mein gesamtes Selbstwertgefühl beruhte auf meiner äußeren Erscheinung und meinem Benehmen. Ich glaube nicht, dass ich in meiner Jugend irgendjemanden wirklich kannte. Und wenn ich dann mit Sarah einkaufen oder auf den Spielplatz ging und die Leute mitkriegten, dass ihr die Hand fehlt, konnte ich durch ihre Reaktionen plötzlich bis in ihr Innerstes sehen - ob sie freundlich waren oder böse oder dumm oder was auch immer. Sehr lange Zeit wusste ich gar nicht, was ich da sah. All diese neuen Arten von Information, die auf mich einstürmten - die wollte ich nicht - ich hatte nicht darum gebeten! Und dennoch wurde ich davon überschwemmt. Ich versuchte es zu ignorieren, und ich habe nie mit jemandem darüber geredet. Trotz allem, was man so hört, waren die 60er sehr, sehr rückständig.«
»Wann bist du geboren, Shw?«, unterbrach Nickie.
»1982.« Das Schweigen, das Shw dieser Antwort folgen ließ, sollte offenbar weiteres Nachfragen verhindern.
Nickie fragte: »Und, Janet, was ist mit Bryan los? Ich verstehe nicht, wieso er nicht Börsenmakler oder so was ist. Gut genug aussehen tut er ja, wenn er sich nur von seiner Vokuhila-Frisur trennen würde.«
Shw warf Nickie im Rückspiegel einen säuerlichen Blick zu, und Janet antwortete, Bryan sei schon immer aus der Reihe getanzt. Sie drehte sich nach hinten um und fragte: »Und was ist deine Geschichte, Shw?«
»Meine Geschichte?«
»Ja. Woher stammst du? Deine Eltern und so.« »Ich komme aus Lethbridge.«
»Lethbridge - das liegt in dem schönen Teil von Alberta. Wohnt deine ganze Familie dort?«
»Mein Vater. Meine Mutter lebt mit einem Typen, der Modellschiffe baut, in Nova Scotia. Ich sehe sie nie.«
»Was macht dein Vater?«
»Er ist Marxismus-Theoretiker an der Uni dort.«
»Ein Marxist.«
»Ja. Und ein Vollidiot.«
»Ich dachte, du
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