Alle Familien sind verkorkst
vorbeischwebte.
Wo ist Norm?
Wade war schwindelig. Die gleißende Sonne und die Menschenmassen machten ihn fertig. Ich bin in Walt Disney World. Ich hätte nie gedacht, dass ich hier mal hinkommen würde, und jetzt bin ich's. Keine Zeitungen. Kein Müll. Nichts deutet auf die Welt außerhalb dieser Anlage hin eigentlich wie bei einem Spielkasino. Zahllose Zerstreuungen. Es könnte 2001 sein, 1986 oder 2008. Und all diese jungen Eltern - so viel jünger als ich - keine alten Leute, abgesehen von Dad. Ein paar gelangweilte und verlegene Teenager. Und das soll lebensbejahend sein? Dieser Park ist ein kosmischer Traumvernichter. Alles, was man einem Ort wie diesem abringen kann, ist ein gruseliger kleiner Kitzel, der einen wissen lässt, dass das eigene Kind nie mehr als ein Kunde sein wird - dass die ganze Welt sich in ein Spielkasino verwandelt.
»Wade.«
Es war Norm, eine Bohnenstange mit Pferdeschwanz, kein Kind im Schlepptau, die Haut von der blassgelben Farbe, wie sie Menschen mit einer überstrapazierten Leber haben. Er hatte einen Diplomatenkoffer in der Hand, einen Gegenstand, der in Disney World aus dem Rahmen fiel wie ein Maschinengewehr. Norm bedeutete Wade, er solle ihm in ein Nostalgie-Restaurant folgen, fort von der Menschenmenge. Wade schnappte sich Ted und Bryan und folgte Norm in das Lokal, wo dieser bereits einen Tisch in der hintersten Ecke besetzt hatte.
»Norm, das ist mein Dad, Ted, und mein Bruder Bryan.«
»Sehr erfreut.« Norm machte keine Anstalten, jemandem die Hand zu schütteln.
Es folgte ein Moment verlegenen Schweigens, und dann fragte Ted: »Also, Norm, was machen Sie so?«
»Ich trete in die Fußstapfen meines Vaters.«
»Was hat Ihr Vater gemacht?«
Wade mischte sich ein: »Dad, ich bin sicher, Norm hat keine Lust, hier ein Bewerbungsgespräch zu führen.«
»Lass nur, Wade. Ist schon in Ordnung«, sagte Norm. Er wandte sich Ted zu. »Nach dem Zweiten Weltkrieg verdiente mein Vater seinen Lebensunterhalt damit, gestohlene Kunstwerke ihren Eigentümern zurückzubeschaffen.«
»Anständig«, sagte Ted.
»Ja, sehr anständig. Sehr edel. Und Sie können sich wohl vorstellen, mit was für Angeboten, Verlockungen und Bestechungsversuchen mein Vater konfrontiert wurde. Und wissen Sie was? Er ist nicht einmal schwach geworden.«
»Im Ernst?«
»Ja, Ted, im Ernst. Und aufgrund dieses Edelmuts haben wir unser Leben in einem Dreieinhalbzimmer-Monopoly-Häuschen in einem der kleineren Vororte von Kansas City verbracht.«
»Verstehe.«
Eine Kellnerin im historischen Kostüm unterbrach sie, um ihre Bestellung aufzunehmen. Sie orderten Eistee, und die Kellnerin ging wieder.
Norm fuhr fort: »Zum Glück hat mich der gute alte Dad oft auf seine Touren mitgenommen. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem wir einem KZ-Überlebenden, dem früher eine Kaufhauskette in Baden-Württemberg gehörte, einen Rubens zurückbrachten. Mir wird immer noch ganz heiß und beklommen zumute, wenn ich daran denke. Aber das kommt eigentlich nicht allzu oft vor.«
Vier Eistee wurden auf den Tisch geknallt. Aus seinem Diplomatenkoffer holte Norm einen Flachmann mit Pfefferminz-Schnaps. »Das Lieblingsgetränk von Teenagern in aller Welt. Es macht meine Eingeweide kaputt, aber meinen Atem macht es minzfrisch. Das Leben ist eben eine Ansammlung kleiner Kompromisse.«
»Reden Sie weiter«, sagte Ted. »Sie wollten gerade von Ihrem Vater erzählen.«
Norm hatte offenbar genug Schnaps in seinen Eistee gekippt. »Also - der liebe alte Dad nahm mich mit auf seine Touren, und das größte Geschenk, das er mir je gemacht hat, war, dass es ihm ein moralisches Anliegen war, mich stolz darüber zu informieren, welche von seinen Klienten die größten Schmiergeldzahler, Charakterschweine und Drogendealer der Branche waren.« Er nippte an seinem Tee. »Lasst uns anstoßen -« Die vier Männer erhoben ihre Gläser. »Auf den lieben alten Dad.« Sie ließen die Gläser klirren, und dann nahm Norms Gesicht einen geradezu verträumten Ausdruck an. »Er ist 1981 vor El Paso mit seiner Piper Cherokee in eine Telegrafenleitung geraten, woraufhin ich den Familienbetrieb übernommen habe. Ich brauch wohl nicht zu erwähnen, dass ich nicht in einem Dreieinhalbzimmer-Monopoly-Häuschen wohne.«
Ted sagte: »Der Krieg ist seit über fünfzig Jahren vorbei, Norm. Meinen Sie, Sie können nach all den Jahren immer noch Geld damit verdienen, Kriegsbeute ausfindig zu machen und zurückzugeben?«
»Der Krieg? Pffft. Heute mache ich
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