Alle Familien sind verkorkst
betraten, um sich nach dem Überfall einen Cocktail zu gönnen. Nach dem Fiasko am Morgen war eine Biker-Bar ein Kinderspiel für sie. Eine halbe Stunde später hatten sie drei Drinks intus, und eine weitere Runde war in Arbeit. Inzwischen hatten sie sich ein wenig beruhigt. Sie beobachteten den Billardtisch, wo Männer, die garantiert Besitzer von Kampfhunden waren, eine Partie anstießen. Nickie sagte: »Ich frage mich, ob Shw diesen Rowdys hier auch so auf der Nase herumtanzen würde.« Dann stieß sie einen angewiderten Laut aus. »Ach, die kann uns mal.« Sie wandte sich Janet zu: »Janet, erzähl mir mehr von Helena. Um ehrlich zu sein - ich weiß wirklich nicht, was passiert ist.«
»Ach Gott, Helena -« Janet seufzte. »Wo soll ich anfangen? Sie war meine beste Freundin. Wir haben in den 50er Jahren zusammen studiert. In Toronto. Ich war die Verklemmte und sie die Flippige. Wir waren ein gutes Gespann. Als ich Kinder bekam, hat sie sich ein bisschen zurückgezogen - sie war eine Anhängerin des Sixties-Feminismus, und dann stand sie auf New Age und Kunsthandwerk und Umhängetücher und selbst gegossene Kerzen und all diesen esoterischen Kram. Aber wenn Helena da war, hatte ich das Gefühl, dass man im Leben so viele andere Dinge tun konnte außer Hausfrau sein. Sie hat mich davon überzeugt, dass der schmale Pfad, den ich eingeschlagen hatte, keine Sackgasse war.«
Zwei Screwdriver wurden serviert. Janet hob ihr Glas: »Auf alle unmöglichen Freundschaften.« Jede der Frauen nahm einen Schluck, und Janet fuhr fort: »Ich bin mit Ted und den Kindern nach Vancouver gezogen, und sie ging ungefähr zur gleichen Zeit in den Westen - Vancouver war damals eine richtige Hippie-Stadt -, und die Kinder fanden es toll, wenn Helena uns besuchen kam, weil sie so anders war als alles, was sie kannten. Sie hat mir Lust aufs Kochen gemacht. Ach - das war eine ihrer großen Begabungen - sie war eine phantastische Köchin.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Nickie.
»Es war so absurd«, sagte Janet. »So verdammt absurd.«
»Red weiter.«
Janet erzählte es ihr, obwohl sie selbst immer noch versuchte, es zu begreifen. An einem todlangweiligen Mittwochnachmittag vor ein paar Jahren hatte sie aus dem Fenster geschaut und Helenas Wagen vorm Haus halten sehen. Helena ist da - wie herrlich! Sie hatten sich in letzter Zeit ziemlich entfremdet - Helena hatte eine seltsam säuerliche Abneigung gegen Janets politische Ansichten entwickelt, die, wie Janet zugeben musste, eher lau waren. Als sie den Wagen sah, glaubte Janet, ein Waffenstillstand sei in Sicht, und ihre Stimmung hob sich. Sie öffnete die Haustür und sah Helena nur mit Blue Jeans, Motorradstiefeln und ... sonst nichts bekleidet aus ihrer Chevette steigen. »Ihre Titten wogten einfach so im Wind. Außerdem war es ein kühler Tag.«
»Ach du liebe Güte.«
»Allerdings. Clem und Judy Payne von nebenan hätten beinahe einen Anfall gekriegt. Ich meine, du kannst dir einfach nicht vorstellen, was für ein merkwürdiges Bild eine Frau abgibt - dazu noch eine äußerst vollbusige Sechzigjährige -, die praktisch im Evakostüm herumläuft.«
»Ich versuch's, aber -«
»Genau. Das Groteskeste, was ich je gesehen habe. Vielleicht gehen in fünfhundert Jahren alle Mädels oben ohne, aber 1996 in West Vancouver? Schockierend. Schockierend. Einfach schockierend.«
Janet hatte die Haustür geöffnet, als sei nicht Ungehöriges an der Situation.
»Hi, Jan.«
»Helena - was in Gottes Namen ... Komm rein - komm ins Haus.«
»Noch nicht, Jan. Das Wetter ist so schön. Ich möchte mich noch ein bisschen sonnen.«
»Helena, es ist nicht sonnig, es ist bedeckt und eiskalt draußen, und du bist nackt. Komm ins Haus.«
»Was bist du bloß verklemmt, Jan.«
»Ich bin nicht verklemmt,.«
»Hör dich doch an.«
Nickie lauschte gebannt der Geschichte, die Janet noch nie jemandem erzählt hatte.
»Natürlich hielt zehn Sekunden später ein Streifenwagen hinter Helenas Auto in der Einfahrt. Das ist ein ständig wiederkehrendes Motiv in meinem Leben - Streifenwagen, die in der Einfahrt halten - so beginnen und enden meine Lebensphasen.«
»Und dann?«
Janet spulte im Kopf den Film ab: die Polizeibeamten ein Mann und eine Frau - näherten sich in indifferenter, förmlicher Manier der Haustür. Janet machte eine Was-sollich-bloß-tun?-Geste, während sie beobachtete, wie die Polizisten auf Helena lossteuerten. Sie fragten, ob sie nicht lieber ins Haus gehen wollten, aber Helena
Weitere Kostenlose Bücher