Alle Farben des Schnees
sie: wie ein Gebet.
1. Dezember
Morgens kurz nach 7 Uhr an der Bushaltestelle Sent Posta. Es schneit. Andri, unser Treuhänder, kommt durch die Flocken. Er trägt einen grauen Hut mit Krempe. Er fährt nach Scuol ins Büro. Ich bin auf dem Weg nach St. Moritz zu einer Schulklasse: Sent-Scuol mit dem Bus, dann mit dem Ersatzbus bis Ardez (ein Tunnel wird erneuert), dann von Ardez bis Sagliains. Umsteigen in den Zug nach Samedan. Umsteigen in den Zug nach St. Moritz. Es sind etwa zwei Stunden, aber die Anschlüsse klappen. Der Bus fährt langsam die schönen, gefährlichen Kurven nach Scuol hinunter. Schnee, alles noch nachtweiß. Ein Leuchten über den Berggraten. Die Busfahrer unterhalten sich per Funk über Schneeketten und über die neuen Fahrkarten-Computer, die sie sich nun gegenseitig erklären. Andri erzählt, daß er gestern bei einer befreundeten Randulins-Familie in Sent die Direktübertragung eines Fußballspiels in Mailand
gesehen hat. Es habe stark geregnet. Regen in Mailand, sagt Andri, ist Schnee in Sent.
2. Dezember
8.00 Uhr. Trockene Kälte. Der schneebedeckte Gipfel des Piz Pisoc färbt sich im Morgenlicht zu einem goldenen Rosa. Die Lischanagruppe mit San Jon, Lischana, Piz Ajüz liegt noch im Schatten. Der Triazzagletscher dahinter ein dunkles Leuchten. Der Himmel ist ganz flach, helles Manganblau. Mit dem Neuschnee sind die Bergdohlen gekommen. Sie kreuzen über den Dächern, als müßten sie sich erst noch orientieren. Winterschwalben. Wegen des Schnees war gestern die Straße ins Oberengadin gesperrt.
Am Abend, gegen 17 Uhr, ein helles Licht im Osten, ich denke erst, es brennt. Dann geht eine riesige Scheibe langsam auf. Sie ist ganz nah. Ein Mond aus kaltem planem Gold. Ein großer Gong.
Später fahre ich mit dem Postauto nach Scuol und dann mit der Rhätischen Bahn (über Ardez und Guarda) nach Lavin zu Leta Semadeni. Von Tür zu Tür wohnen wir, wenn wir öffentliche Verkehrsmittel nehmen, ziemlich genau 50 Minuten voneinander entfernt. Aus Berlin oder London kenne ich das als innerstädtische Distanzen.
Kurz nach unserem Umzug hatte Leta Semadeni in Sent in der Grotta da cultura aus ihren »Poesias da chadafö/ Küchengedichte« gelesen. Sie schreibt zweisprachig, Vallader und Deutsch. Wobei beide Sprachen gleichrangig sind. Manche Gedichte entstehen zunächst auf Vallader, andere auf Deutsch. Und manchmal wisse sie hinterher nicht mehr, welches Gedicht zuerst in welcher Sprache entstanden sei. Die Parallelversion ist auch nicht einfach eine Übersetzung, sondern ein zweites Schreiben im anderen Idiom. Das hat mich sehr fasziniert. Drei Jahre später sind nun neue Gedichte für einen Band zusammengekommen, »In mia vita da vuolp/In meinem Leben als Fuchs«. Als sie mich um ein Lektorat der deutschen Versionen gebeten hat, habe ich sofort zugesagt. (Und war stolz, daß sie mich gefragt hat.)
Ihr Haus ist klar, hell und offen. Fast ein Kinderhaus, wie aus Pappe ausgeschnitten. Wände aus Glas, Wände aus Beton, der Boden Beton. Bodenlange schwarze Vorhänge, bodenlange weiße Vorhänge. Die zwei Stockwerke in der Mitte des Hauses zueinander offen. Oben eine freistehende Badewanne mit Aussicht. (Bei mir immer noch der Reflex: das ist nicht kindersicher! Obwohl meine Kinder nun wirklich schon groß sind.) Wenige ausgesuchte alte Möbel. Eine scheue Katze schnurrt herum.
Sie zeigt mir ihr Atelier. Sie photographiert, arbeitet an Collagen. Wir sitzen an einem gläsernen Tisch.
Später Käse, Wein und Brot. Leta ist 1944 in Scuol geboren und aufgewachsen. Matura im Hochalpinen
Töchterinstitut in Ftan (das auch Annemarie Schwarzenbach besucht hat), Lehrerin an der Jüdischen Schule in Zürich, später am Lyceum Alpinum Zuoz. Dazwischen längere Zeit in Südamerika. Sie ist die Tochter des romanischen Schriftstellers und Theaterautors Jon Semadeni. Mein Vater, sagt sie, ist mit seiner Truppe durch die ganze Schweiz gezogen. Wo man früher Tiroler Volksschwänke gespielt hatte, gab es auf einmal modernes Theater, weißt du. Modernes Theater auf romanisch! Er war ein Aufklärer. Sie gibt mir sein Buch »Die rote Katze«.
Im Mondlicht stapfen wir durch den Schnee zum Bahnhof von Lavin. Auf dem Bahnsteig drücke ich auf einen Knopf. Ich bin die einzige Reisende, die einsteigen möchte. Als der Zug durch den Schnee kommt, bremst er ab und hält nur für mich. Zehn Minuten später, vor dem Bahnhof in Scuol, wartet schon das Sammeltaxi. Wieder bin ich die einzige Passagierin. Es ist
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