Alle Farben des Schnees
bald Mitternacht. Ich bezahle sechs Franken Einheitspreis und werde nach Sent gefahren. Es ist dafür gesorgt, daß ich nach Hause komme.
4. Dezember
Gestern eine Mail von Not Vital aus Peking. Er hat eine Geschichte geschrieben für einen Ausstellungskatalog, die schildert, wie es zu seinen Silberkugeln kam. Seine Silberkugeln, in denen ein Kamel steckt. Eine schöne
Tuareg-Geschichte, eine Zwei-Männer-in-der-Wüste-Geschichte. Ich korrigiere mit schlechtem Gewissen ein wenig an der Zeitenfolge im Deutschen herum. Es gibt eine Poesie, der die Grammatik egal ist.
Noch bevor wir nach Sent zogen, hatte ich von Not Vital gehört, ihn aber nicht mit Sent in Verbindung gebracht. Ich erfuhr von einem Schweizer Künstler, der, um eine Krankenstation für Verbrennungsopfer in Nepal aufzubauen, die Kuhfladen von den Wiesen seines Dorfes sammelte, trocknete, sie in einem Spezialverfahren in Bronze goß und dann je nach Größe für mehrere tausend Franken verkaufte. Vor allem in den USA seien diese Schweizer Kuhfladen sehr begehrt gewesen. Es war einer der Direktoren der Schweizer Nationalbank, der mir das erzählte. In Nepal hatte Not ein verbranntes Kind gesehen. Man heizt dort in unsicheren Öfen mit getrockneten Kuhfladen.
5. Dezember
Plätzchenbacken mit den Nachbarskindern. Urezza, die Klassenkameradin von Matthias, und ihre zwei jüngeren Brüder Clot Curdin und Fila sind da; dann kommt Esther Krättli aus Chur mit den zwei Töchtern Anna und Mia. Wir machen Ausstecherle. In Eierbechern rühren wir Puderzucker mit Lebensmittelfarbe und verschiedenen Backaromen an. Zitrone, Orange, Rum,
Bittermandelöl. Rot, blau, gelb, grün, orange. Es gibt auch aufgelöste Schokolade zum Anmalen. Die Kinder stecken die Pinsel in die Farbe, in die Schokolade. Sie malen, lecken die Pinsel ab. Auf den Blechen wachsen Gesellschaften von Sternen, Fischen, Herzen, Lilien, es gibt auch Füchse und Katzen, Steinböcke und Monde.
Vor vielen Jahren, als wir noch Feriengäste in Guarda waren, kamen wir nach einer Wanderung einmal durch Sent. Ich sah ein kleines Mädchen und ihren jüngeren Bruder, die am Brunnen mit selbstgebastelten Schiffchen aus Holz, aus Rinden spielten. Eine Großmutter paßte auf die beiden auf. Wir gingen vorbei, und ich dachte, wie schön es diese Kinder haben.
Jetzt sitzt das Mädchen, etwas größer, mit ihrem Bruder bei uns am Tisch. Und sie hat noch einen kleineren Bruder. Ich kenne ihre Namen: Urezza, Clot Curdin, Fila. Und ihre Großmutter Uorschla ist meine Nachbarin.
Während unseres ersten Sommers in der neuen Ferienwohnung war Matthias auf einmal verschwunden. Ich fand ihn bei Uorschla, wo er mit deren Enkeln selbstverständlich in der Küche saß und Marmeladebrot aß.
Esther legt eine CD mit Originallesungen von romanischen Dichtern auf den Tisch zwischen das Mehl und die Ausstecherle. Sie hat im Radio-Archiv gesucht und die Stimmen zusammengestellt. Es ist auch eine Aufnahme von Luisa Famos dabei.
Auf einmal fragt Esther: Wie gut können die Kinder hier Deutsch? Gestern hat mich Matthias beim Comiclesen gefragt: Wie heißen die kleinen weißen Stücke, nicht Schnee, das andere? Er hatte das Wort »Hagel« gelesen, dachte aber, es sei falsch geschrieben. Ich bestätigte »Hagel«. Matthias schreibt besser Romanisch als Deutsch.
(Der Siebenschläfer rumpelt nicht mehr. Keine Olivenkerne auf dem Boden. Er schläft. Ich habe gelesen, daß Siebenschläfermännchen im Frühjahr nur zeugungsfähig sind, wenn ein futterreicher Herbst kommt. In mageren Jahren erwachen sie mit unterentwickelten Hoden. Diese vorausschauende Geburtenplanung ist wissenschaftlich nicht geklärt.)
6. Dezember
Heute weißes Weiß. Kein anderer Himmel als gedecktes Weiß. Die Berge schraffiert grau, der Kirchturm grau.
Ich muß nach Luzern, zum Unterrichten ans MAZ, das Medienausbildungszentrum, die Schweizer Journalistenschule. Als wir nach Sent zogen, hatte ich diese Arbeit noch nicht; jetzt gebe ich dort regelmäßig Kurse. Auch Manfred war noch nicht Dozent in Basel. Seit wir in der Schweiz wohnen, werden wir in der Schweiz anders wahrgenommen.
Ich lese in einem Schulbuch von Matthias. »Il pavlader« ist der Futterknecht. »Na pavlar ils chavals«, steht auf einem Schild auf der Wiese am westlichen Dorfeingang bei den Pferden. Am Anfang übersetzte ich immer: Nicht mit den Pferden sprechen!
Von Sent nach Luzern sind es gut vier Stunden. Es ist schon dunkel, als ich in der Stadt ankomme.
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