Alle Farben des Schnees
gebe unglaubliche Eiskugeln voller Kristalle. Es sei eine Sucht, sagt sie. Man könne schon kaum mehr auf der Treppe vor ihrem Haus hinuntergehen, alles sei voller Sterne und Kugeln aus Eis.
Matthias lernt in der Schule romanische Weihnachtslieder. »Oh du fröhliche« ist hier »O bainvgnü Nadal!«: Willkommen Weihnachten!
Heute abend in der Grotta die Probe für das jährliche Singen der romanischen Weihnachtslieder an den Senter Brunnen. Ich singe Sopran, weil es nur zwei Frauen gibt, die Sopran singen können. Ich hätte es auch sein lassen sollen. Aber die andern sind tolerant. Wir sind nur zu elft. Vor allem die Senter Lehrer sind gekommen. Ich kenne alle vom Sehen, aber ich weiß nur wenige Namen. Brigitte ist auch dabei. Und die Frau des englischen Bergführers, die aussieht wie Geraldine Chaplin und fünf Kinder hat. Bei der Probe seien nie alle da, sagt Gianna Bettina, die die Probe leitet. Am Sonntag an den Brunnen seien wir sicher doppelt so viele.
Gianna Bettina hat auch eine Flötengruppe, bei der sicher 10 Frauen aus Sent mitspielen. In der Schule unterrichtet sie die sogenannte Kleinklasse, das ist ein Stützunterricht für Kinder, denen das Lernen schwerfällt. Nach der Probe trinken wir Tee und reden noch ein wenig. Das heißt, ich höre zu; die anderen reden romanisch. Auf einmal fragt Andri Gritti, Gianna Bettinas Mann und Lehrer für die höheren Klassen, ob ich das Choralbuch auswendig lerne. Er lacht; er will mich in das Gespräch einbeziehen. Ich hatte im Choralbuch geblättert und war gerade auf die romanische Übersetzung von Matthias Claudius’ »Abendlied« gestoßen. Seite 41 sage ich, »Der Mond ist aufgegangen«. Es sei
ein sehr schönes Lied. Alle schlagen die Seite auf. Sie sagen, wir kennen das Lied nicht, wir singen es nie. Jetzt lesen sie es. Ein junger Lehrer lacht: »Il god es nair e tascha!« Er schüttelt ungläubig den Kopf: Der Wald ist schwarz und schweigt. Vielleicht ist es schlecht übersetzt, sagt jemand und möchte mich retten mit meiner Begeisterung für das Lied. Andere nicken. Sie schlagen den Übersetzer nach: Gion Gaudenz. Ein bekannter Geistlicher, Historiker aus Scuol, der viele Psalmen übertragen hat. Für keinen der gerade noch Singenden scheint »Il god es nair e tascha« plausibel zu sein. Ich kann nicht sagen, wie man es schöner übersetzen könnte. Das deutsche »Der Wald steht schwarz und schweiget« ist besser, aber ich glaube, im Unterengadin ist der Wald eben nicht schwarz und er schweigt auch nicht. Das ist kein Übersetzungsproblem. Es geht um einen Erfahrungsraum. Manchmal ist es still im Wald. Aber die Lärchen schweigen nicht, die Fichten, die Föhren, die Arven. Sie schwirren, summen. Und die Lärchen sind grün und dann golden. Der Wald im Unterengadin ist licht.
Hundegang nach der Probe: Ich mußte die Skihose anziehen, es hat gegen 25 Grad unter null. Sternenhimmel wie eine Handvoll Gries. Lichtbahnen von Wolken, unerklärlich. Beim Umkehren liegen die Lichter des Dorfs da wie eine Weihnachtsouvertüre. »Postkarte«, denke ich. Und dann denke ich, daß ich »Postkarte« denke.
Ich hatte mich am Nachmittag doch getraut, den Stern aus der Form zu nehmen. Ich hatte ihn im Zimmer etwas antauen lassen, dann ging es ganz einfach. Es stimmt: Da, wo das Metall auf das Eis trifft, schmilzt das Eis schneller (weil sich das Metall schneller erwärmt als das Eis). Man kann rütteln und dann löst sich der Stern. Nun steht er draußen vor der Tür. Ich habe eine Kerze hinter ihm angezündet. Ein dicker Stern aus Eis, der leuchtet. Das Licht fällt auf den Schnee der Straße.
18. Dezember
14.05 Uhr, die Totenglocke läutet, es ist ein langes, langes, dünnes Geläut, das dann in langsamen, fast schleppenden Schlägen endet. Die Totenglocke läutet zweimal. Ein erstes Mal, wenn bekannt wird, daß ein Mensch aus Sent gestorben ist. Ein zweites Mal vor der Beerdigung, deren Termin an der Anschlagtafel der Gemeinde beim Dorfplatz notiert ist. Die Totenglocke beginnt zu läuten, wenn der Zug der Trauernden von der Kirche Richtung Friedhof losgeht. Der Sarg steht in einem an den Seiten offenen, schwarzlackierten Holzwagen, den ein Pferd zieht. Oben auf dem Wagen liegen die Kränze, die Blumen. Das Pferd wird geführt. Der Zug bewegt sich sehr langsam durch das Dorf; es sind immer ältere Menschen dabei. Wenn alle den Friedhof erreicht haben, ruft der Pfarrer über das Handy den Küster an, der die Totenglocke wieder
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