Alle Farben des Schnees
abstellt.
Draußen ist es immer noch sehr kalt. Es ist sonnig, manchmal ziehen einzelne Schleierwolken vorbei. Schwarze Vögel (größer als die Bergdohlen, scheint mir) kommen auf die Holzbrüstung des Balkons. Matthias hat ihnen Körner gestreut. Jetzt hocken sie nebeneinander wie wissende Statisten. Die Schnäbel waagerecht, die Augen zielgerichtet auf die Scheibe, die sie von uns trennt.
19. Dezember
Skifahren. Schwerelosigkeit im Schwung. Aus einem Bergschatten herausfahren ins Licht. Helle aus Weißglut.
Mit dem Schnee ändern sich die Farben. Wenn alles weiß ist, wird das Auge farbempfindlich. Schneeschatten, bläulich, grau, rosa, pfirsich. Die bunten Schatten nehmen zu, je länger es weiß bleibt.
18.45 Uhr, tiefe Nacht. Ich gehe durch die Gasse. Vor den Holztüren flackern Kerzen. Mondsichel. Ich trage: Skiunterwäsche, darüber ein Funktionsunterhemd und zwei Wollpullover, wobei der zweite aus dicker Wolle ist mit einem Kragen, den man hoch zuknöpfen und übers Kinn ziehen kann. Darüber einen Snowboarder Anorak. Skihandschuhe (Fäustlinge) und darunter noch Fingerhandschuhe. Und trotzdem: Wenn man beim
Laufen die Hände nicht bewußt bewegt, werden die Fingerspitzen kalt. Das Geräusch des Schnees unter den Tritten ist ein quietschendes Knirschen. Sonst Stille. Ich gehe den Weg über dem Friedhof, die Lichter hören auf. Schneenacht. Der Hund wälzt sich im aufpudernden Weiß. Beim Rückweg die Weihnachtsbeleuchtung des Dorfes. Sterne aus Glühbirnen, Glühgirlanden. Beim Schreiner ein springendes Reh aus elektrischem Licht. Flutlicht auf dem Fußballplatz, der nun als Eisbahn dient. Drei erste Hockeyspieler.
Gestern Matthias in die Badewanne gesetzt. Er wiegt immer noch keine 24 kg. Er ist fast 10 Jahre alt. Aber er ist so gut wie nie krank, er gehört zu den größeren Kindern seiner Klasse, obwohl er der Jüngste ist. Er macht viel Sport. Du solltest Tänzer werden, sage ich zu ihm. Er schüttelt sich; er ist Fußballspieler.
Er war noch sehr klein, ein halbes Jahr, da haben wir ihn in die Ferien nach Griechenland mitgenommen. Schon im Flugzeug war er komisch. Irgendwie schlapp. Wir dachten, es läge am Fliegen. Landen in Patras, mit dem Mietauto in die Mani. Wir hatten ein Ferienhaus an den Klippen, Steinstufen führten hinunter zu flachen Felsen, von denen aus man ins Meer springen konnte. Silvia war gleich mitgekommen. Andreas war noch mit einer Tübinger Jugendgruppe unterwegs; er sollte eine Woche später nachfliegen. Er war damals 12 Jahre alt und wir hatten alles sehr genau und mehrfach durchgesprochen. Nun war nicht er das Problem.
Furchtbare Nacht. Matthias schlief ein und wachte sofort wieder auf, weinend. Schnaken, Übermüdung? Wurde er blau? Bildeten wir uns etwas ein? Wir nahmen ihn hoch, tatsächlich, er röchelte. Wir gingen mit ihm auf und ab. Er schlief auf dem Arm wieder ein. Und wachte auf, weinend. Wurde er immer schlapper? Beim dritten Kind sind Eltern nicht mehr so schnell alarmbereit. Und doch. Als es zu dämmern begann, klopften wir bei fremden Nachbarn. Ein Mann im Unterhemd öffnete, hinter ihm erschien eine Frau in einen Morgenrock gewickelt. Beide waren sehr freundlich. Sie reagierten verzögert, als sei jede Form von Schnelligkeit des Menschen unwürdig. Ja, es gebe einen Arzt, und ausführlichst, ja poetisch wurde uns der einfache Weg beschrieben.
Der Arzt öffnete persönlich und bat uns herein. Er sah auf das Kind und schüttelte den Kopf. Wir fliegen zurück, sagte Manfred. Der Arzt sagte: Dafür ist es zu spät. Was ist los, fragte Manfred. Silvia stand sehr gerade, den sehr gerade sitzenden Hund an der Leine. Der Arzt schlurfte hinaus in ein Hinterzimmer. Er blieb Ewigkeiten verschwunden. Als er zurückkam, trug er eine offene Schuhschachtel vor sich in der Hand. Er sah hinein. Mit drei Fingern rührte er in den verschieden eingeschweißten Pillen und Zäpfchen. Eines zog er heraus. Was ist das, fragte Manfred. Es wird das Kind beruhigen, sagte der Arzt. Das Baby reagierte kaum noch, es konnte sein Köpfchen nicht mehr halten. Ich legte es auf den Tisch. Seine Lippen waren blau. Tonlos
ließ es sich das Zäpfchen geben. Ich nahm das Kind wieder hoch; wie ohnmächtig hing es über meinem Arm. Fahren Sie nach Kalamata, sagte der Arzt. Es gibt dort eine Ärztin. Er notierte die Adresse.
Ich kannte die Straße nach Kalamata. Ich habe Reportagen über die Mani geschrieben. Serpentinen, unmöglich auf dieser Strecke zu überholen. Und ich
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