Alle Farben des Schnees
über dem S-charltal, die Berge sind ganz nah. Das Licht ändert sich innerhalb weniger Minuten. 17 Uhr, noch blaues Dunkel. Der Mond ist über den Piz Pisoc gewandert. Die Berge jetzt glänzend grau. Wolkenkino.
Wir singen. Am Dorfplatz, am Brunnen Curtin, am Brunnen bei der Plazzetta, an unserem Brunnen Bügl Süt, am Brunnen Schigliana, am Brunnen Stron, dann vor der Kirche. Wir sind sicher 50 Sänger, Einheimische und Gäste. Gianna Bettina dirigiert. In dieser Nacht scheint sie nur aus vielen langen Armen zu bestehen. Sie gibt die Töne, die Einsätze. Es ist kalt. Nach dem
letzten Gloria sagt ein Baß hinter mir zu seinem Nebensänger: Quai d’eira fich bun. Das sei doch jetzt richtig gut gewesen. Hinterher gibt es Glühwein in der Grotta, aber ich gehe nicht mit. Ich würde lieber mit ihnen gehen und nicht nach Hause. Aber ich möchte nicht deutsch sprechen, und romanisch sprechen kann ich nicht.
22. Dezember
Fahrt nach St. Moritz zu den Schülern. Schneeverwehungen. Der Zug staubt durch den Schnee, Orientexpreß, Doktor Schiwago. Im Bus setzt sich Nesa, meine Romanischlehrerin, neben mich. Nesa erzählt: Einmal, als ich jung war, bin ich nach Aachen getrampt. An der Autobahn so in der Gegend von Köln haben zwei Polizisten angehalten; sie wollten mich gleich mitnehmen. Trampen war ja verboten. Da habe ich Romanisch gesprochen. Einfach nur Romanisch. Die Polizisten hatten so was noch nie gehört. Sie konnten die Sprache nicht einordnen. Da haben sie mich grad gehen lassen. Und dann habe ich in Köln den Dom gesehen. Das hat mich enttäuscht. Ich kannte ihn doch von den Parfümflaschen. Und auf den Parfümflaschen war der Dom immer golden. Und in Wirklichkeit war er schwarz.
23. Dezember
Es ist wärmer geworden. Weihnachtsföhn, sagt Ida, als ich mich nach dem Klavierspielen von ihr verabschiede. Der Luftbefeuchter neben dem Flügel haucht, die Fische schwimmen über den Bildschirmschoner. Ich nehme meinen Pullover von der Stuhllehne. Der Weihnachtsföhn in Sent sei sprichwörtlich. Dann korrigiert sie mich. Ich solle nicht »Bellas festas« sagen, Schöne Feiertage, sondern »Bunas festas«, gute Feiertage. »Bellas festas« sei ein Germanismus. Und an Sylvester: »Bun di, bun on«, guten Tag, gutes Jahr.
Manfred brät Wiener Schnitzel. Die Kinder sind gekommen. Vor zwei Tagen Silvia, sie war schon zweimal Skifahren. Gestern Andreas. Die Kinder essen unglaublich. Der Kleine ist in den Brunnen gefallen; seine nassen Sachen liegen im Flur. Silvia hat ihn in die Badewanne gesteckt. Viel Schaum, er spielt, hat rote Backen.
Wir müssen heute noch die Wohnung räumen. Feriengäste kommen, und zwar in unsere Zimmer. Es sind Stammgäste, eine Patchwork-Familie mit vier Kindern, die schon in die damals frisch renovierte Wohnung kamen, als wir noch in Tübingen lebten. Wir mögen die Eltern; wir mögen die Kinder. Das Mädchen Victoria füttert die Katzen von Sent und hat unserem Hund beigebracht, auf Befehl zu bellen und sich am Boden zu rollen. Ihr Vater kam schon als Junge mit seinen Eltern
ins Dorf, in den sechziger Jahren, als die Straße nach Sent hinauf noch nicht asphaltiert war. Wir ziehen also in die Ferienwohnung. Die Ferienfamilie bleibt zwei Wochen. Danach wechseln wir wieder in unsere Wohnung zurück. Im Februar aber leben wir in der alten Backstube und der Bibliothek, dem ehemaligen großen Flur, durch den der Heuwagen fuhr.
Jedes Jahr, wenn wir vor Weihnachten unsere Sachen einpacken, sagen wir uns, daß wir das nächstes Jahr nicht mehr tun. Aber wenn wir aufgeräumt und vieles weggeworfen haben und drüben sind, dann finden wir es doch wieder gut. Es ist wie Lüften. Es ist ein Nomadisieren im eigenen Haus.
Es gefällt mir, Weihnachten in der Ferienwohnung zu verbringen, und ich mag die Februarwochen unten zwischen den Büchern. Es gibt dort eine winzige Küche in der Waschküche und eine separate Toilette. Es gibt keine Dusche, aber wir haben eine Jahreskarte für das Bad in Scuol. Wir müssen neue Handgriffe überlegen. Denn alles ist ein bißchen anders. Wir essen in der Bibliothek mit Stofftischdecken und Kerzen. Wir versuchen, es schön zu machen, auch wenn die Räumlichkeiten schlicht sind. Wir kochen einfacher, weil es nur zwei Platten gibt. Wir sparen mit dem Geschirr, weil wir keine Spülmaschine haben. (Aber wir haben in der kleinen Küche besondere Porzellanteller, bedruckt mit Bären oder Vögeln, die wir nur in dieser Zeit benutzen.) Und weil es keinen Fernseher gibt,
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