Alle Farben des Schnees
uns. Matthias und Josch, Helens 13-jähriger Sohn, gehen mit unserer Ferienfamilie hinauf zur Waldgrenze, um Raketen steigen zu lassen. Sent ist gezeichnet durch mehrere Dorfbrände, man darf in den Gassen keine Silvesterraketen abfeuern.
Helen sagt: Heute ist blauer Mond. Der Silvestervollmond ist der zweite Vollmond im Dezember.
Hundegang. Wie heißen die Sterne? Ein noch komplizierteres Vokabular.
1. Januar 2010
Gestern am Brunnen sagte unser Feriennachbar aus Zürich, der mit einer spanischen Englischdozentin verheiratet ist: auch wenn man noch nie in New York war, war man in New York, weil man die Bilder kennt. Und doch sei es etwas ganz anderes, einmal selbst dort gewesen zu sein.
Er ist in Zagreb geboren (Muttersprache Kroatisch), kam mit fünf Jahren nach Zürich, studierte in Genf und London. Ein Jahr lang arbeitete er für eine Bank in New York. Seine Frau hat er, wenn ich es recht verstanden habe, in Oxford kennengelernt. Gerade kommen sie aus Spanien, sie haben Weihnachten bei der Großmutter seiner Frau verbracht. Wir kamen drauf wegen des Regens. Sintflutartiger Regen in Spanien; kleine Sturzbäche in Sent. Wie viele Sprachen werden in Sent gesprochen? Er wohnt im einzigen Haus in Sent, das keine romanische oder lateinische, sondern eine deutsche Inschrift hat. Sie läuft als Langzeile über einem Sgraffito, das ein fließendes Band aus ineinandergreifenden Wellen darstellt. Viele Häuser in Sent haben diese Verzierung unter dem Dach. Wenn die Seelen der Toten das Haus verlassen, sollen sie sich in dem eingeritzten Wasserstrom reinigen.
ES IST VOL EIN SER GROSSER SPOT DAS MAN SGELT MEHR LIEBET ALS GOTT HET MAN GOT SO LIEB ALS DAS GELT SO STUOND ES VIL BESSER IN DER VELT
13.30 Uhr. Sonne, leicht diesig.
Matthias ist wieder eingeschlafen. Heute früh, es war noch dunkel, kamen seine Freunde herein und haben ihn zum Neujahrs-Singen geweckt. Eine unselige Senter Tradition: An Büman, dem 1. Januar, dürfen die Kinder an den Türen mit einem kleinen Sprechgesang, einem leiernden Rufen, um Geld bitten: »E char, e char, dessast il Büman.« Lieber, Lieber würdest du die Neujahrsgabe spenden! Doch wenn um zehn Uhr der Gottesdienst beginnt, müssen sie aufhören. Also fangen die guten Kinder morgens oft vor sechs Uhr an. Und das nach der Silvesternacht. In der Schneefinsternis ziehen sie dann los mit ihren selbstgebastelten Kässchen. Ein Kind, das viele Verwandte im Dorf hat, bekommt mehr als eines, dessen soziale Bindungen nicht so stark sind. Matthias kam mit 60 Franken zurück. Immerhin! Aber die symbolische Bedeutung der 5-Franken-Stücke! Er hatte »nur« zwei. (Wer sie ihm wohl gegeben hat?)
4. Januar
Wir sind wieder zu dritt. Andreas ist nach Köln gefahren. Gestern hat Manfred ein Zimmer in Venedig gebucht. Er will seine Basler Antrittsvorlesung schreiben: »Faule Helden«, Schwerpunkt Thomas Mann und der Zauberberg. Früher ging er ab und an zum Schreiben nach Sent. Jetzt kann er hier nicht mehr allein sein. Manchmal träumt er von einer Hütte auf dem Berg.
Heute gelesen: Im Jahr 2050 werden drei Viertel der Weltbevölkerung in Metropolen leben.
Es gibt in Sent Feriengäste, die bereits in der vierten Generation in dieses abgelegene Bergdorf kommen. Was suchen sie? Wenn ich unsere Feriengäste frage, sagen viele paradoxerweise zunächst, daß sie das suchen, was es hier nicht gibt. Sie wollen Ferien machen an einem Ort ohne Diskothek, ohne Nagelstudio, ohne Sushibar. Ohne Leuchtreklame und Animationen. Denn wo es das alles nicht gibt, haben sie die Chance, daß sich ihre Aufmerksamkeit ändert: auf einmal sehen sie wieder einen Nachthimmel, sie erfahren Stille und das Geräusch der Brunnen, den Geruch von Heu oder Schnee. Ihre Zeiterfahrung ändert sich. Es sind die Glocken, die den Tag einteilen. Menschen grüßen sich, wenn sie aneinander vorübergehen. Feriengäste werden wiedererkannt. Sie gehören dazu. Ein bißchen sind sie als Gäste hier zu Hause.
7. Januar
Gestern im Coop den Dreikönigskuchen mit Krone gekauft. Mit Matthias am Abend drei Stück davon gegessen, genau genommen habe ich sie gegessen, er hat sie nur zerpflückt. Heute Morgen steckt der König in Manfreds Stück. Manfred, der seit zehn Jahren Beobachtungen für den ungeschriebenen Roman »Der Falschmacher« notiert, muß während des Frühstücks die Königskrone tragen.
9.00 Uhr. Hundegang. Sent liegt noch im Schatten. Ich nehme wieder den Weg oberhalb des Friedhofs. Dann plötzlich der
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