Alle Farben des Schnees
kannte die Straßenschluchten dieser Stadt, in denen kein Fremder sich zurechtfindet. Wir fahren an die Peripherie, sagte Manfred, dann nehmen wir ein Taxi. Stirbt das Kind, fragte ich. Fahren Sie nach Kalamata, sagte der Arzt.
Manfred fuhr, neben ihm saß Silvia mit dem Hund. So schnell stirbt ein Baby nicht, sagte Manfred, die sind zäh. Ich saß hinten und sah blind durch die Scheibe. Die Zeit hatte aufgehört. Die Hitze stieg. Täuschte ich mich, oder rührte sich das Baby wieder? Ich glaube, das Zäpfchen wirkt, sagte ich. Als wir die ersten Häuser von Kalamata erreicht hatten, parkten wir das Auto an einem Kiosk. Wir winkten einem Taxi. Es hielt, sah uns und fuhr weiter. Das nächste Taxi hielt. Nicht mit Hund, sagte der Taxifahrer rauchend und startete durch. Mehrere Taxis fuhren vorbei. Manfred fuchtelte. Umsonst. Doch Matthias hob den Kopf. Er hebt den Kopf, sagte ich. Schneidende Mittagshitze. Es war Silvias Hund. Nie hätte Silvia den Hund hier irgendwo angebunden. Und nie hätten wir Silvia mit Hund irgendwo hier allein gelassen. Auf einmal hielt ein Taxi und sagte: steigen Sie ein.
Die Kinderärztin lächelte. Nein, er stirbt nicht. Ich
begann zu weinen. Sie hatte Matthias nackt ausgezogen und abgehört. Spastische Bronchitis. Wir hatten keine Ahnung davon. Sie verschrieb uns Medikamente zum Inhalieren und eine Inhalationsröhre. Dreimal am Tag.
Matthias mußte bis zu seinem sechsten Lebensjahr inhalieren. Manchmal alle zwei Wochen für mehrere Tage, später seltener. Um die Zeit seiner Einschulung war es vorbei. Jetzt sitzt er in der Badewanne und taucht Plastikritter in den Schaum und mehrköpfige Ungeheuer.
20. Dezember
Die ersten Wintergäste sind im Dorf. Fremde Gesichter und fremde vertraute Gesichter. Sie kommen jedes Jahr. Man würde nach ihnen fragen, wenn sie nicht wieder auftauchten. Auch im Bad in Scuol, fremde und vertraute Nacktheit.
Als wir das erste Mal nach Scuol kamen, gab es das Bogn Engiadina, die Bäderanlage mit Trinkhalle, Gesundheits- und Sportzentrum, noch nicht. Heute ist das Bogn Engiadina neben der Gondel, die direkt ins Skigebiet Motta Naluns führt, die Hauptattraktion von Scuol. Als Scuol noch Schuls hieß, kamen russische Prinzessinnen in diese Gegend, französische Grafen, Schriftsteller, Exzentriker. Sie logierten in einem der großen Kurhotels in Schuls, Tarasp, Vulpera und tranken das Wasser aus den Mineralquellen. Sie kamen auch
ins Val Sinestra, wo damals Europas einzige Arsenquelle genutzt wurde. (Heute fließt die Quelle in den Fluß.) Mit dem Ersten Weltkrieg hörte das gehobene Kurleben auf. Und nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine populärere Reisezeit.
Nackte Menschen. Die spezifische, vorgeschlechtliche Nacktheit in der Sauna. Sind nackte Menschen friedfertiger? Sie bewegen sich langsam durch die pastell gekachelten Räume. Nackte Paare, in meist gleichfarbigen Handtüchern. Einzelpersonen, Blickkontakten ausweichend. Alles leise. Die Choreographie größtmöglicher Unverbindlichkeit bei Hautnähe. Im kalten marmornen Außenbecken schwimmt in gleichmäßigen Zügen eine sportliche Frau. Man sieht auch den nackten Menschen ihre Berufe an. Nicht immer, nicht ganz sicher. Aber vieles läßt sich zumindest ausschließen.
Die Journalistin und Romanautorin Zora del Buono, die mich besuchen wollte, schreibt eine Mail, sie habe das Hotel Waldhaus in Sils Maria fluchtartig verlassen müssen, weil ihr kleiner Hund, ein italienisches Windspiel, am Schnee angefroren sei, die Haut sei ihm von den Fußballen abgerissen. In der Tiefgarage habe er nicht gepinkelt, er sei zu gut erzogen. Erst in Chur dann. Einmal hat sie mir erzählt, diese Hunderasse sei für adlige Damen in französischen, nicht beheizbaren Schlössern gezüchtet worden. Als lebende Wärmflasche sozusagen. Sie selbst trägt den Hund gerne im Arm.
Wie einen zweiten Bauch oder eine zusätzliche, etwas ausladende Extremität. Der Hund hat Augen wie ein Reh. Man wundert sich immer, warum er nicht davonspringt.
Unser alter Hund ist groß, wie ein junger Löwe, im Sommer wie ein hoher Fuchs. Er hat die Farbe von Tannenböden in der Sonne. Er liebt den Schnee, macht weite Sprünge über die Schneewiesen. Manchmal versinkt er bis zum Bauch. Muß sich dann abstoßen. Wenn wir Schneebälle werfen, wirft er sich mit seinem ganzen Körper ihnen nach, wühlt nach ihnen, Schnee im Schnee, wälzt sich und kann sein Glück nicht fassen.
21. Dezember
Gleich wird es dunkel. 16.45 Uhr: Der Mond steht
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