Alle Farben des Schnees
lesen wir abends vor. Wir leben enger aufeinander und lernen uns
wieder anders kennen. Und wenn wir dann in unsere große Wohnung zurückziehen, ist auch sie wieder neu und ein bißchen fremd. So behält unser Zuhause etwas vom Charme, hier in Ferien zu sein.
Dieses Ausweichen für andere ist auch ein kleines Spiel mit Demut und Dankbarkeit. Wir empfinden es nicht als selbstverständlich, daß wir in Sent in einem eigenen Haus leben. Natürlich bekommen wir von den Feriengästen auch Miete, aber wir haben es schon fertiggebracht, mit dem Geld dann für ein paar Tage ins Hotel Waldhaus nach Sils Maria zu gehen.
Wir waren selbst viele Jahre Feriengäste mit kleinen Kindern, und dann mit größeren Kindern und Baby und Hund. Es war nicht immer einfach, eine gute Ferienwohnung zu bekommen. Jetzt hat es etwas mit Teilenwollen zu tun. Übers Jahr kommen Postkarten, Photos per Mail. Kinder werden größer, Geschichten wachsen. Manche Ferienkinder gehen mit dem Hund raus, mancher Gast hilft uns bei Problemen mit dem Internet. Eine Malerin schenkt uns ein Aquarell, ein Romanist schickt einen Aufsatz über die Unterengadiner Zuckerbäcker in Schweden. Eine Familie nimmt auf dem Heimweg eine Tüte mit Büchern und Schokolade für Silvia nach Hildesheim mit. Manche Gesichter würde ich vermissen.
Und dann sagen wir uns, auch die Engadiner sind in der Saison immer zusammengerückt. Wir gehören jetzt zu ihnen und machen es wie sie.
Es gibt Feriengäste, die möchte man in Seidenpapier einwickeln.
24. Dezember
Heute Morgen gehen die Senter Kinder ohne Schulranzen in die Schule. Sie proben für das Singen am Abend in der Kirche.
Andreas und Matthias sitzen sich am Tisch gegenüber. Matthias spricht seinen großen Bruder auf romanisch an. Andreas versteht ihn nicht. Deshalb redet Matthias weiter. Andreas: Hör auf mit deiner Bauernsprache. Matthias lacht auf und beschimpft ihn nun leise auf romanisch. Andreas kann nur ahnen, was sein kleiner Bruder sagt. Nun fängt er an, ihn auf englisch zu beschimpfen. Matthias versteht nichts, spricht aber weiter romanisch. Andreas steht auf, zeigt, daß ihm sein kleiner Bruder zu blöd ist.
Im Föhn ist der Stern gebrochen. Auf dem Weg in die Kirche regnet es. In den Straßen liegt Schneematsch. Viele Fenster sind mit brennenden Kerzen geschmückt. Ich bin eine Stunde vor Beginn des Weihnachtsfestes alleine vorausgegangen. Ich möchte einen Platz vorne, damit ich die Kinder beim Singen sehen kann. Meine Familie lacht mich deshalb aus. Dabei ist diese Stunde allein in der leeren, sich langsam füllenden Kirche
mein Weihnachtsgeschenk. Die Kirche ist offen. Ich setze mich in die dritte Reihe auf die Seite des großen, nach Harz riechenden Baums. Die drei bis vier Meter hohe Fichte ist mit roten Kerzen, roten Kugeln und Strohsternen geschmückt. Der Pfarrer nickt mir zu und stellt weitere Papiersterne, in denen Teelichter flackern, in Winkel, Nischen, auf Absätze aus Stein.
Ich mag Weihnachten nicht. Und ich bin Manfred sehr dankbar, daß er sich jedes Jahr völlig unkompliziert auf Weihnachten freut. Weihnachten ist Skifahren mit den Kindern und gemeinsames Fondue oder Raclette. Die Geschenke sind klar: Skipässe, ein neuer Helm, ein neuer Anorak. Ich glaube immer noch nicht, daß mir an Weihnachten nichts mehr geschehen kann. Weihnachten, das war eine weinende Mutter, eine von der selbstauferlegten Weihnachtsperfektion (Großputz, Gebäck, Gans, Garderobe) überforderte und müde Mutter, die regelmäßig zusammenbrach. Weihnachten hieß alarmbereit sein. Abfangen, was abzufangen war. Ich, ein größenwahnsinniges Kind. Und dann schenkte der Vater ihr die falsche Kaffeemaschine. Und wieder war nichts mehr zu retten.
Arvengeruch. In Scuol werden jetzt mit Arvenspänen gefüllte Kissen verkauft. Arvengeruch soll beruhigen und den Schlaf fördern. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich bin gerne in diesem Kirchenschiff aus Arvenholz und Stein. Keine Gemälde, kein Kreuz, kein hoher Altar. Nur ein einfacher Tisch mit einem weißen Tuch.
Ein sehr altes, aus Stein gehauenes Taufbecken. Arvenbänke und eine gemalte Decke aus Blütengirlanden. Sie müssen sich den Himmel als Blumenwiese gedacht haben.
Ältere Schüler haben angefangen, die Kerzen am Baum zu entzünden. Der Baum ist so hoch, daß sie auf eine Leiter steigen müssen. Sie halten zwei, drei Meter lange Stangen in den Händen, an deren Enden eine brennende Kerze befestigt ist. Es ist nicht einfach,
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