Alle Farben des Schnees
Lavin in Pisa geboren, hat sein Leben als Randulin im Unterengadin
und in Sent verbracht. Seinen Bemühungen um die rätoromanische Sprache ist es zu verdanken, daß 1938 das Rätoromanische als vierte Landessprache der Schweiz anerkannt wurde. Peider Lansel hat mit dem Pfarrer und Dichter Otto Gaudenz (dem Großvater von Leta, der Lehrerin) den bis heute jährlich erscheinenden Almanach »Chalender Ladin« gegründet. Sein Motto: »Tanter Rumantschs, be rumantsch!«, unter Rätoromanen nur rätoromanisch! Brigitte hat in der Badewanne in seinem ehemaligen Haus, am Fuße der von ihm restaurierten Ruine der Kirche San Peder in Sent, ihre Tochter Anina geboren. Das Wasser wurde immer kälter, lacht sie, und ich habe es nicht mehr geschafft, aus der Wanne rauszukommen. Und ich habe wie verrückt mit diesem Holzofen-Boiler nachgeheizt, sagt Jon, aber der war zu langsam.
12. Januar
Nach meinem Romanischunterricht sagt Manfred zu mir: Du willst die Sprache gar nicht lernen. Ich sage nichts. Ich denke: Stimmt. Ich will sie geschenkt bekommen. Wie eine Muttersprache. Oder: Ich will mit ihr infiziert werden wie mit einer Krankheit. (Krankheit und Sprache.)
Mein erster Impuls, Rätoromanisch zu lernen, war über das Lesen von Gedichten. Weil Gedichte das Idiom der Muttersprache sind.
13. Januar
Klavierspielen mit Ida. Sie bereitet sich auf eine Orgelprüfung vor; sie sagt, sie sei zu alt für Prüfungen, aber sie will die Aufnahme in einen Kurs schaffen. Ida sagt: als ich ein Kind war, wollte ich immer am Klavier sterben. Das sei eine schöne Idee vom Tod gewesen.
Gestern den Dokumentarfilm »Shahida - Allahs Bräute« (2008) der israelischen Filmemacherin Natalie Assouline gesehen. Sie zeigt den Alltag gescheiterter palästinensischer Selbstmordattentäterinnen in einem israelischen Frauengefängnis. Eine 17-jährige Schülerin ist dabei, die mit einem Sprengstoffgürtel um den Leib einen israelischen Grenzposten in die Luft sprengen wollte. Die meisten der Attentäterinnen sind Mütter. Im Gefängnis sind diese Frauen jetzt vor allem unglücklich, weil ihnen die Kinder fehlen. (Sie haben das Glück erst mit Kindern kennengelernt.) Aber vielleicht sind sie nicht ganz so unglücklich wie in ihrem Alltag draußen in der Welt. Eine der Insassinnen ist nicht religiös. Sie hat einem Israeli nur deshalb ein Messer in den Bauch gestoßen, um ins Gefängnis zu kommen. Ihr Leben hinter Gittern sei freier als das in ihrer Familie, sagt sie. Was geschah all diesen Frauen daheim?
Manchmal wirkt der Film fast idyllisch. Klösterliches Aufgehobensein im Gefängnis. Seltsam, was es ausmacht, wenn ein paar Gitter in einem hellen Blau angestrichen sind.
Hätte man mich mit zwölf, dreizehn Jahren gefragt, ob ich für Jesus Christus sterben würde, wäre ich mitgegangen. Nicht weil ich fromm war. Sondern weil ich unglücklich war. Aber ich habe nicht gewußt, daß ich unglücklich war. Wie soll man das wissen, wenn man nicht weiß, was Glück sein könnte? Das Mädchen, das ich einmal gewesen sein muß, dachte, es glaube an Gott. Aber letztlich wollte es nur irgendwie fort. Sterben. Unsichtbar sein. Nicht sein. Unglück macht verführbar.
Sonne, ein Licht, das an Frühling erinnert. Aber es ist ja noch mitten im Winter. Matthias hat wieder Vogelfutter auf das Balkongeländer gestreut. Der Glanz auf dem Schwarz des Gefieders der Bergdohlen. Im Hintergrund der Schnee des Daches. Schneeschatten, Gefiederblitze.
Ich schaue bei Wikipedia nach: Alpendohlen (oder Bergdohlen) haben gelbe Schnäbel und rote Beine. Sie sind mit der Alpenkrähe verwandt. Die Alpenkrähe hat einen roten Schnabel. Sie brütet noch im Unterengadin. Vermutlich ist sie durch die Alpen- oder Bergdohle bedroht. Was da draußen frißt, sind eindeutig Bergdohlen. Aber ich werde auf die Schnäbel achten, vielleicht kommt doch noch einmal eine Alpenkrähe. (Alpenkrähen sind kleine Raben).
21. Januar
Anke kommt mit ihrer Tochter Cristina zum Abendessen. Anke, 34 Jahre alt, aufgewachsen in Stein am Rhein, lebt seit vier Jahren in Sent. Ihre Mutter ist Schweizerin, ihr Vater Deutscher. Der Vater ihrer Tochter Cristina ist Italiener. Aber sie sind seit zehn Jahren geschieden. Anke arbeitet bei der Bank in Scuol und hat so viel Romanisch gelernt, daß sie sich mit ihren Kunden unterhalten kann. Gespräche über Anlageberatung führt sie dann auf Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch. Anke erzählt: Noch vor einem Jahr behauptete Cristina immer, daß sie Engadinerin
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