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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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sei und daß sie einen Engadiner Paß bekomme und daß erst nach dem Flüelapaß die Schweiz beginne. Wir haben dann die Karte aufgeschlagen, sind mit dem Finger die Schweizer Grenzen zu den Nachbarländern abgefahren und haben ihr gezeigt, daß das Engadin zur Schweiz gehört. Doch davon wollte sie nichts wissen. Vielleicht hatte sie ja recht. Denn als Gaddafi die Schweiz aufteilen wollte - die Deutschschweiz zu Deutschland, die Französische Schweiz zu Frankreich und das Tessin zu Italien -, da hat er das Engadin niemandem zugeschlagen. Er hat es vergessen. Das Engadin wäre eigenständig geblieben.
    Wir essen Wiener Schnitzel (von Manfred) und Kartoffelsalat (Böhmisches Rezept meiner Mutter).
    Wir ändern uns, sagt Anke. Als ich noch Touristin war, hat mich der volle Bus nicht gestört. Es war mir auch egal, wenn Skifahrer ihre Skier da abgestellt hatten,
wo eigentlich Platz für einen Kinderwagen sein sollte, und wenn dann in einer Kurve die Skier auf den nächsten Passagier knallten. Heute bin ich genervt, wenn Touristen ihre Skier nicht festhalten und wenn sie die Kinder fast zerdrücken. Und hast du jetzt wieder die Entsorgungsscheune neben dem Dorfladen gesehen? Es ist unglaublich. Die Touristen werfen da alles rein, Pappe, Papier, zerbrochene Teller, kaputte Skisachen, oder sie stellen einfach ihre Müllsäcke auf den Boden, nicht die gelben, bei denen die Gebühr bezahlt worden ist, sondern irgendwelche Säcke. Es wird einfach alles entsorgt, egal, ob es da entsorgt werden kann. Der Gemeindearbeiter, der das wegräumen muß, tut mir jedes Jahr leid.
    Sollen wir einen kleinen Knigge für Sent-Touristen schreiben? frage ich. Machen wir, sagt Anke.
    Cristina und Matthias haben sich auf den Boden zurückgezogen. Sie hocken beieinander und bauen etwas mit Lego auf. Sie sprechen leise romanisch.

22. Januar
    Auf dem Weg nach Newcastle. Warum das Tal verlassen? Ich werde einen Schreibkurs für englische Deutschstudenten geben. Mich interessieren die Möglichkeiten des kreativen Schreibens im Fremdsprachenerwerb. Einmal unterrichtete ich einen jungen Chinesen, der kaum Deutsch konnte, aber wunderbare literarische
Ideen hatte. Er lernte sehr schnell. In seiner Heimat publizierte er Gedichte, wie ich später erfuhr.
     
    Henrike, Professorin für mittelalterliche Literatur, leitet das German Departement der Universtät von Newcastle. Wir sind befreundet seit der Zeit, als ich in Tübingen einmal ein Manuskript einscannen mußte. Der Scanner stand bei den Mediaevisten. Das war vor etwa zehn Jahren.
     
    Tunnel, die schönen Eisenbahnbrücken der Rhätischen Bahn. Schnee, bläuliche Bäume, Bäume in dunklem Flaschengrün. Graues Grün, Lärchen, gefiedert. Kiefern, Arven? Durch den Wald ziehen sich Schneisen für den Holztransport, weiße Bahnen. Der Inn hat die Farbe der dunklen Bäume. Am Ufer sind die Büsche und Bäume voller Reif. Silberne Eisränder, Eisinseln im Wasser. Der Tunnel zwischen Ardez und Ftan ist wieder befahrbar.
     
    Lavin. Die Holzbrücke über den Inn. Häuser in Weiß und Rosa, Pfirsich, Weinrot. Das karmesinrote Schulhaus trägt Schilder, die um Mieter werben. Aus Mangel an Kindern wurde die Schule geschlossen.
     
    Junge Lärchen heben die Zweige, alte Bäume senken sie. Die Geste gemalter Engel. Dem Leben »gewachsen« oder »nicht gewachsen« sein. An den Wörtern steigen Bilder, steigen Vorstellungen auf, die versucht werden
wollen. Etwa: nicht gewachsen sein. Sich das Leben nehmen, nicht aus Verzweiflung, nicht aus Müdigkeit. Nur ein Sich-Ergeben in das Nicht-gewachsen-Sein.
    Der Vereinatunnel beginnt bei Sagliains.
     
    Klosters Dorf, die Schneeverwehungen zwischen den Gleisen: wie der Blick aus dem Flugzeug auf die Alpen.
     
    Der Schnee in der Sonne wie ein Tuch, das weggezogen werden könnte.
     
    Kurz vor Saas fährt die Bahn durch einen sonnendurchfluteten Schneewald. Tännchen wie in alten Kinderbüchern. Meine Mutter malte solche Schneetännchen als Gruß, manchmal, am Ende eines Briefes hinter ihre Unterschrift.
     
    Vor der Felsenpforte aus dem Prättigau hinaus erscheinen Nebelschleier, Streifen wie Bänder, die die Landschaft zusammenhalten und zugleich verwischen. Dann steigt das Weiß der Wiese auf zum Weiß, das die Bäume verschluckt. Darüber Hügel, Berge, Sonne.
    Das Tuch wurde niedergelegt. Darauf stehen nun dick und wollig Pferde im Schnee.
     
    Schmelzen, Läutern. Reinigt man nicht Silber durch Schmelzen? Läutert der schmelzende Schnee die Berge?
     
    Ich möchte

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