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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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Schritt in die Sonne. Es ist nur ein Schritt. Schneidender Glanz. Die frühe Sonnenbahn wandert gegen Sent.
    Beim Rückweg treffe ich Uorschla, die mit ihrem Mann aus dem Stall kommt. Sie trägt hohe Gummistiefel. Uorschla erzählt, sie hätten jetzt ein Kälbchen von 22 Kilo. Die Mutter wolle es nicht, weil es so klein sei. Also setzen sie sich neben die Mutter, dann läßt sie das Kälbchen trinken. Jetzt ist es ja schon älter. Aber als es geboren wurde, konnte man es mit einer Hand hochheben und in die Kälberbox legen. Uorschla sagt: Jöri hat am Abend auf einmal gemeint, ach, er müsse noch in den Stall. Er habe so ein Gefühl. Dann hat er das Kälbchen gesehen. Es ist viel zu früh gekommen. Aber es will leben, sagt Uorschla.

9. Januar
    Leta Semadeni kocht für uns: Kürbissuppe, Kalbscarpaccio, Risottoauflauf mit Krabben und Zitroneneis mit Kastaniensahne. Als Kind, erzählt sie, habe sie immer einen Stapel kleiner Tellerchen neben dem Teller gehabt und alle Speisen in Einzelportionen und getrennt gegessen. (Ein schönes Bild für eine Lyrikerin.) Sie sagt, den ganzen Tag habe sie Cecilia Bartoli gehört, über Youtube, Lascia ch’io pianga. Sie sei süchtig danach. Sie lacht über sich. Sie arbeitet gerade an einem Vorhang aus Photographien.
     
    Das romanische Wort für Heimweh heißt: »increschantüm«. Heimweh haben: »as laschar increscher«, wörtlich: sich hineinwachsen lassen.

10. Januar
    Unser Chor singt zur Vereidigung des neuen Gemeindepräsidenten und der Gemeindevertreter von Ramosch. Der alte Präsident wurde in Form eines enormen Schneemannes mit Schneebällen beworfen und gestürzt. Alle schwören im Freien bei Gott. Die Turnhalle ist voll. Die große Blaskapelle von Ramosch spielt. Nach dem Singen bekommen wir einen Teller mit Aufschnitt und Gurke. Wir Frauen tragen rosa und hellblaue Blusen, die Männer tragen weinrote Hemden.
Unter den Frauen entsteht eine Diskussion, daß es endlich reicht mit diesen furchtbaren Blusen. Das nächste Mal wollen sie einfach in Schwarz singen. Ich hatte nichts gegen die Blusen. Schwarz tragen viele, die nicht zusammengehören. Wir singen romanische Lieder. Neben mir singt Wanda vom Hotel Val Sinestra. Jeder möchte neben Wanda stehen, denn sie singt gut. Sie hat einen Einheimischen (»einen Mann der romanischen Sprache«) geheiratet und lebt seit 15 Jahren im Tal.
    Zunächst haben sie im Val Sinestra gewohnt, als das Kind in den Kindergarten kam, sind sie nach Sent umgezogen.
    Im Chor singt auch die Holländerin Monika, sie betreibt in Vnà oberhalb von Ramosch einen Bauernhof und vermietet Zimmer. Sie kommt immer mit Eiern ihrer Hühner in den Chor, die sehr begehrt sind. Sie trägt Schleifen und Bänder im Haar und selbstgestrickte Pullover in bunten Farben. Sie singt Sopran, so sicher, als sei es gar nichts.
    Ich ertappe mich dabei, wie eine Ethnologin Verwandschaftsbeziehungen zu buchstabieren. Die Senter Kindergärtnerin (ihr Mann ist Lehrer in Scuol) hat früher in Sils Maria gelebt, sie ist aber in Sent geboren. Ihr Bruder wohnt in derselben Straße wie wir, seine Frau sehe ich immer am Brunnen. Sie haben einen Schäferhund. Ihre Schwester betreibt mit Mengia das Bade-und Geschenkartikel-Geschäft in Scuol (in dessen kleiner Vitrine wir die Anzeige für unser Haus gesehen haben). Diese Schwester hat einen Labrador und zieht
mit Mina jeden Abend zum Nordic Walking los. Langsam, langsam sehe ich die Strukturen. Niemand ist hier unverbunden.
     
    Das soziologische »Small World Paradigm« (Stanley Milgram) besagt, daß ein Mensch jeden beliebigen anderen auf dem Planeten über nur etwa sechs Stationen kennt.

11. Januar
    Brigitte, die mir den Stern geschenkt hat, und ihr Mann Jon kommen zum Abendessen. Manfred kocht Lasagne. Sie bringen mit: Eier von ihren Hühnern, Minzsirup, Hagebuttenmark, Johannisbeergelee. Brigitte hat mit einem brasilianischen Mann Zwillinge, Vera und Jana (beide gehen in Ftan aufs Gymnasium). Mit Jon hat sie eine Tochter Anina, die in Sent zur Schule geht, eine Klasse über Matthias. Brigitte leitet in ihrem Haus ein Projekt »Betreute Ferien« für Menschen mit Behinderungen. Jon, der Orgel- und Gitarrenbau gelernt hat, macht mittlerweile professionelle Websites. Die beiden möchten hier leben und haben sich Arbeit erfunden. Jon ist, wie er nebenbei erzählt, der Urenkel des Dichters, Essayisten und ehemaligen Schweizer Konsuls in Livorno Peider Lansel. Peider Lansel, 1863 als Kind eines Vaters aus Sent und einer Mutter aus

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