Alle Farben des Schnees
Santorin werden!
Es ist das alte Paradox. Die Touristen haben Angst vor dem Tourismus.
Was suchen sie hier? Frau B., mein Feriengast, sagt: Die Abfahrt von Prui nach Ftan, diese weit ausschwingende langsame Waldabfahrt, das ist es! Das ist Skifahren wie früher.
Sie suchen keine Steigerung, eher die Zurücknahme.
Heute kommt Matthias während der Schulzeit kurz nach Hause: Im Sportunterricht gehen sie Schlittschuhlaufen. Er braucht seinen Skihelm. Später mit dem Hund sehe ich sie dann: der Lehrer mitten auf dem Eis, die Kinder bilden zwei Mannschaften, machen einen Wettlauf um Hindernishütchen. Das alles in diesem Licht, in der Höhe. Der Platz liegt direkt am Hang. Eislaufen in der Luft. Man kann dort auch Schlittschuhe ausleihen; die einheimischen Kinder bekommen sie offensichtlich umsonst. Das Leihen der Skier in Sent wird für Dorfkinder nach Zentimetern berechnet: Matthias ist 140 cm groß; also beträgt die Miete für die Skier 140 Franken. Für den ganzen Winter. Der Skipaß für die Dorfkinder kostet für die Saison 50 Franken.
Matthias ist in Tübingen gerne zur Schule gegangen. Er liebte seine Lehrerin. Er wollte nicht nach Sent umziehen. Er hatte Freunde, einige noch aus der Krabbelgruppe.
Wir fürchteten ein wenig den ersten Schultag. In Sent werden die Klassen eins bis sechs in allen Fächern auf rätoromanisch unterrichtet. Erst ab der vierten Klasse ist Deutsch als Fremdsprache offizielles Schulfach.
Gleich nach dem Umzug Ende Juli hatte Matthias von der Gemeinde finanzierten Rätoromanisch-Unterricht bekommen, damit der Schulbeginn Mitte August für ihn einfacher sein würde. Aber natürlich verstand er nur ein paar Wörter.
Seraina, die Architektin von nebenan, Schwiegertochter von Uorschla und Mutter von Urezza, Clot Curdin und Fila, ging mit Urezza an der Hand zum ersten Schultag der zweiten Klasse. Sie nahmen Matthias und mich mit. Vor der Schule warteten schon Kinder und einige Mütter. Matthias kannte seine zukünftigen Schulkameraden vom Fußballspielen, vom Brunnen, aus den Gassen.
Die Lehrerin kam und die Kinder rannten voraus und ins Schulgebäude hinein. Als ich die Klassenzimmertür erreichte, saß Matthias bereits an einem der Tische. Ich blieb an der Tür stehen. Die Lehrerin fragte, ob ich am ersten Tag dabei sein wolle. Ich sah nach Matthias. Er schüttelte entschieden den Kopf. Da drehte ich mich um und ging.
Als Matthias nach Hause kam, ich putzte gerade Salat, warf er schwungvoll seinen Schulranzen in den Flur. Das klang schon gut. Na, wie war’s? fragte ich. - Viel
besser, sagte er. - Was heißt viel besser, sagte ich und spülte die grünen Blätter ab, du verstehst die Sprache nicht. Was ist denn besser?
Alles, sagte er.
Ich wischte mir die Hände ab und dachte nach: War das Kind erleichtert, daß der erste Tag in der neuen Schule gut vorbeigegangen war? Schützte es sich vor der Trauer um den Verlust seiner Tübinger Klasse, indem es sich jetzt einen Gewinn einredete? Oder gefiel es ihm wirklich unter den rätoromanischen Dorfkindern?
Lange vor uns wurde Matthias in Sent mit Namen gegrüßt. Überall, wo er auftauchte, sagte jemand: Chau Matthias!
Kindergarten und Schule in Tübingen waren stark durch Akademiker-Familien geprägt. Kaum konnten die Kleinen sprechen, diskutierten die Eltern, wann sie mit dem Fremdsprachenunterricht beginnen sollten. Es war nicht ungewöhnlich, daß Vorschulkinder Kuscheltiere besaßen, die nur »Englisch sprachen«. In der ersten Volksschulklasse war das achtjährige Gymnasium ein Thema. Fraglos galt, daß ein Kind vor allem optimal gefördert werden müsse. Es sollte etwas werden (Abitur war das Mindeste). Und leicht wurde vergessen, daß ein Kind schon etwas war.
Wir sind keine besonders ehrgeizigen Eltern. Aber irgendein heimlicher Druck fiel von Matthias ab. Er war der intellektuellen Monokultur einer kleinen Universitätsstadt
entkommen. Die Zukunft zeigte sich offener, roch auch nach Heu und Milch. Matthias ist nicht nur in der Schule (jeweils zwei Klassen mit etwa zehn Kindern werden in einem Raum unterrichtet), sondern auch in der Freizeit immer mit der überschaubaren Gruppe seiner Klassenkameraden zusammen. Und diese Gruppe, der Jahrgang, wird im Dorf als kleiner Sozialverband wahrgenommen und angesprochen, was wiederum ihren inneren Zusammenhalt verstärkt. Unter diesen Bedingungen kann Schulzeit leichter Gemeinschaft sein als zielgerichtete Karrierezeit. Denn die bergende Zugehörigkeit zu einem
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