Alle Farben des Schnees
eingewickelt in Felle, ins Val Sinestra oder auch ins S-charl-Tal fahren lassen. (Wir haben das noch nicht gemacht. Ist es ein bißchen wie in Tübingen? Wir gingen in den Hölderlinturm, wenn Besuch kam.)
Samstag, 6. Februar
Frau B., ein Feriengast, sagt: Ich schlafe hier. Ich gehe um neun Uhr abends ins Bett und ich schlafe bis neun Uhr. Ich schlafe nie so wie hier. Und ich träume. Ich träume sonst nie.
Im Flur eine Stimme. Es ist Not Vital. Er kommt herein. Wir haben uns das letzte Mal im September gesehen. Er setzt sich, als sei es gestern gewesen und springt sofort erzählend zwischen Peking und Agadez, Koranschulen und Sonnenuntergängen hin und her. Er möchte auf jedem Kontinent einen singulären Ort finden und gestalten, an dem man den Sonnenuntergang betrachten kann. In den Bergen gibt es ja keinen Sonnenuntergang, sagt er. Wir trinken Tee. Aus einer Plastiktüte wickelt er einen honiggelben kleinen Quader aus. Er streicht mir mit dem Quader über das Handgelenk. Es riecht aromatisch. Von einem Tier, sagt er. Aus einer Drüse, sage ich. Er nickt, wiederholt das Wort Drüse. Er steckt den Quader wieder in die Plastiktüte. Die Plastiktüte in die Tasche seines Anoraks. Er ist dünn geworden. In Afrika wird man dünn, sagt er. Sag mir, wo du warst, sage ich und hole ein Blatt. Er nimmt meinen Pelikanfüller. Ist schöner als, sagt er nachdenklich und dreht den Füller in der Hand - wie heißt der andere? - Montblanc, sage ich. - Vielleicht, sagt er. Dann schreibe ich: Peking, Wien, Peking, Hongkong, Guangxi, Peking, New York, Toronto, Santiago, mit dem Auto durch Argentinien bis zur Insel, sagt er. Ich notiere: Patagonien. Dann wieder Santiago. Rio (Rio ist vielleicht die schönste Stadt. Und an zweiter Stelle? Noch einmal Rio. Und an dritter? frage ich. Er überlegt. Dann sagt er: Sanaa, Jemen). Und weiter nach: Lissabon, Casablanca, Rabat, das Atlas-Gebirge, sagt er, dann Niamey, Agadez. Und zurück: Niamey, Casablanca, Portugal, Zürich.
Zürich, sage ich, und wie bist du nach Sent gekommen?
Mit der Rhätischen Bahn, sagt er, wie sonst?
Die Bewegung ist wichtig, sagt er, die Bewegung löst viel aus; Manfred ist zum Schreiben doch auch nach Venedig gefahren.
Er habe begonnen zu malen. In Peking habe er seinen Assistenten Mizo gemalt. Mit schwarzer und weißer Ölfarbe. Und was er malte, sah so aus wie Mizo. Ich wußte nicht, daß das so einfach ist. Ich habe mich in einem Metall gesehen. Ich habe mich gemalt und ich sah aus wie ich. Morgens wache ich auf und kann nicht abwarten zu malen. Schwarz und weiß. Ich habe meine Mutter gemalt. Nur ihr Gesicht. Sie verabschiedet sich. Sie gibt mir die Hand und verabschiedet sich. Sie sagt, sie sterbe. Sie schreibt meinem Bruder kleine Zettel und legt sie überall hin. Adieu, sta bain!
Der Friedhof, sage ich. Das Grab mit der Hand. Es ist das Grab deines Vaters? Es ist sehr schön! Nein, sagt er, das war mein Cousin. Er hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er wußte, er würde sterben. Er hat mich um einen Grabstein gebeten. Ich habe seine Hand genommen und in Gips getaucht. Dann bin ich mit dem Abdruck nach Italien gefahren.
Der Abdruck der Hand liegt im Marmor wie eine Berührung. Als könne man dem Tod die Hand auflegen, ihn mit einer kleinen menschlichen Geste zurücknehmen.
Sonntag, 7. Februar
Das Romanische ist ein unsichtbares Sprachschild des Dorfes. Eine hauchfeine Grenze gegen die Touristen, aber auch gegen die Zuwanderer. Es ist wie im Märchen. Du mußt das Wort kennen, wenn du den Felsen öffnen willst.
Bald ist der Senter Faschingsball. Ich erinnere mich an unseren ersten Winter. Manfred und ich trauten uns nicht hinzugehen. Mit dem Hund als Vorwand schlichen wir um die gläserne Front der Schulsporthalle. Vorsichtig traten wir ans Glas: wunderbare Masken. Auf dem Heimweg sahen wir drei junge Frauen mit riesigen Blütenschirmen. Einmal gehe ich doch hin. Wenn ich sprechen kann, gehe ich tanzen.
Montag, 8. Februar
Gestern war es schon warm. Das Schmelzwasser floß die Straßen hinunter. Die Vögel riefen anders, oder riefen schon andere Vögel?
Heute ist es wieder sehr kalt und ganz klar. Sonne, blauer Himmel. Immer noch bin ich überrascht, wie schnell sich das Wetter in den Bergen ändert.
Not sagte: In diesen Tagen ist es hier wie in einer Stadt, im Laden sprechen sie kein Romanisch mehr. So viele Leute.
Eine befreundete Journalistin aus Tübingen, die regelmäßig zum Skifahren kommt, schreibt: Sent soll nicht
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