Alle Farben des Schnees
des Vereinatunnels 1999, sagt Christof, sind die Immobilienpreise in Sent um etwa ein Drittel gestiegen. Seit diesem Jahr gibt es in Sent mehr Ferienwohnungen als Wohnungen für Einheimische. Die Gemeinde arbeitet an neuen Bestimmungen, so soll etwa, wer einen Neubau plant, 30 % oder 100 qm des Objekts für Einheimische zur Verfügung stellen. Aber das Gesetz ist noch nicht beschlossen.
Vom Ostrand des Dorfes gehen wir in die Wiesen hinein. Man müßte Siedlungen neu erfinden, sagt Christof, das enge Wohnen, das Zusammenwohnen kann
auch schön sein. Es muß nicht jeder in einem freistehenden Haus leben, mit einer großen Wiese drumherum. Siehst du das Haus dort? Das sieht aus wie die Häuser im Bergell, wie aus Steinen gemauert. Es paßt nicht hierher. Und es ist auch kein gemauertes Haus. Es ist ein Betonbau; die Steine wurden drangeklebt. Es hat winzige Fenster, wie ein Bunker. Und es hat keine Tür. Aber eine Garage, von dort kommt man mit einem Aufzug hinauf. Die Besitzer kommen aus Zürich; sie arbeiten bei einer Bank.
Wir gehen weiter hinunter ins alte Dorf. Man diskutiert nur über das Geld, sagt Christof, und verschenkt neue soziale Ideen. Die Gemeinden bräuchten künstlerische Berater. In Sent gibt es noch gewachsene Gassen, die sich aus den Bedürfnissen ergaben. Du siehst immer wieder die alte Engadiner 3-Raum-Anlage mit Flur: Küche, Stube, Vorratskammer. Riesige Speicher gegen Süden, für das Heuvolumen, gewohnt wurde gegen Norden. Dazu kam dann die Idee der Palazzi. Es gibt so schöne Plätze in Sent, sehr italienisch. Und die Gärten von Sent.
Wir gehen weiter. Siehst du das? Ich sehe nichts. Das war der Schweizer Architekt Max Dudler, er hat das alte Haus so umgebaut, daß es nicht auffällt. Aber innen ist es neu. Er hat in den riesigen Stall eine Ebene wie einen großen Tisch eingezogen. Auf dem Tisch und unter dem Tisch wird gewohnt.
Christof ist 1958 in Baden im Kanton Aargau geboren.
Er habe 20 Jahre dort gewohnt, aber nie ein Verhältnis zur Landschaft bekommen, obwohl sie sehr schön sei. In Sent sei das sofort anders gewesen. Und hier gefällt ihm das, was er das »Unschweizerische« nennt, die fremde Sprache, der Einfluß der verschiedenen Baukulturen. Der Mythos Engadin, sagt er, beruhe zu 90 % auf Fremdeinflüssen.
Bedrohlich seien weniger die Familien, die sich eine Ferienwohnung kaufen. Schlimmer seien die Spekulanten. Nachdem das Oberengadin praktisch ausverkauft ist, werde damit begonnen, im Unterengadin Geld zu parken. Nur weil einer zu viel Geld hat, muß er hier nicht die schöne Landschaft verbauen.
Mir fällt Armon Planta ein, der Senter Lehrer, Archäologe, Lyriker, der bereits in den sechziger Jahren vehement gegen den Ausverkauf der Heimat und die Ausbeutung der Natur geschrieben hat. Seine Witwe lebt noch in Sent, eine schmale, freundliche Frau, an deren Häuserwand Spalieraprikosen wachsen. Esther besucht sie manchmal. Esther hat gesagt: Armon Planta hat mich sehr geprägt. Als er gestorben ist, ist meine Uhr stehen geblieben. Ich glaube sonst nicht an solche Sachen.
Einmal hat mir Esther das Gedicht »Passlung« von Armon Planta zusammen mit ihrer Interlinearübersetzung geschickt. Manfred hat es übertragen:
Langlauf
Über die Fluren
den Fluß entlang
hat der Bodennebel
Girlanden
aus Rauhreif
an die Erlen gezaubert
und ein Tuch
aus Kristallen
auf den Schnee
gewebt
Dort
wo
die Sonne
hinreicht
glitzert
alles
glänzt
und blendet
den Menschen, den Langläufer
der eilt
mit eleganter Stärke
federleicht
durch die verzückte Landschaft
unter einem Himmel aus Bläue
Später in der Kirche in Vnà. Die Lia Rumantscha zeigt eine Montage aus kleinen Filmabschnitten von Rosa Brunner. Sie hat in den Jahren 1941 bis 1951 ihre Familie und das Leben in Lavin gefilmt. Stumme Bilder, grieseliges Schwarz-Weiß, Botschaften aus einer nahen, verschwundenen Welt: zwei Pferde ziehen den Pflug über einen Acker, zwei Männer helfen ihnen von hinten; sie schieben mit aller Kraft. Eine Mutter flicht ihrer Tochter die Zöpfe. Ein Mädchen wirft Heu mit der Gabel auf. Kühe trinken am Dorfbrunnen. Ein Pferd wird gestriegelt. Ein Mädchen schmiegt sich zärtlich an den Hals und die Brust des Pferdes, lächelt dabei in die Kamera. Heu wird auf große, helle Tücher geworfen, das Heu mit den Tüchern zusammengebunden. Ein Mann schultert den riesigen Ballen. Er ist ganz klein, er schwankt, muß das Gewicht ausgleichen. Dann: Kühe ziehen Holzschlitten durch den Schnee.
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