Alle Farben des Schnees
Ein Schwein wird geschlachtet. Mit der Säge zerkleinert. Die Gedärme quellen heraus. Skiszenen. Junge Männer und Frauen tragen Holzskier den Berg hinauf. Kleine Pferdeschlitten, große Pferdeschlitten. Immer wieder Chalandamarz-Szenen. Die erste Glocke, die erste Wollmütze, dann purzeln die Kinder aus den Häusern. So viele Kinder, Glocken, Mützen. Eis wird aufgehackt. Dann wieder: Mädchen in hellen Kleidern laufen direkt auf die Kamera zu. Eine Ostertafel. Zwei Buben stoßen Eier gegeneinander. Schwarze Feierlichkeiten. Ein Hochzeitspaar in der Hochzeitskutsche. Eine Hirschkuh im Schnee. Pferde ziehen Holzstämme. Sommer
auf der Alp. Dann die Schneemassen des Lawinenwinters 1951. Lautlos fräst sich in der Kirche auf der Leinwand eine schwarze Dampflok durch den Schnee.
12. Juni
Während ich mit dem Hund gehe, sehe ich, daß eine Herde Kühe das Postauto aufhält. Heute ist Alpaufzug.
Später: Pistenputzen. Die Eltern und Kinder der JO (»Jugendorganisation«), die während der Wintersaison jeden Samstag ganztägige Skikurse für die Dorfkinder durchführt, treffen sich an der Gondelstation in Scuol und fahren auf die Motta Naluns. Es ist kalt. Wir tragen Anoraks. Oben bekommt jeder einen Plastiksack und Wegwerfhandschuhe. Wir werden mit Geländewagen weiter hinauf gefahren, die Kinder hocken auf den offenen Ladeflächen. Ich war noch nie so früh im Jahr so hoch auf dem Berg. Anemonen, Orchideen, Enzian in verschiedenen Größen, aber nicht ein, zwei Enziane, sondern, wie hingeschüttet, eine weite Fläche voll tiefsten Blaus. Große Blüten, fedrige Glocken in hellem Lila, kleine helle Glockenblumen. Blumensterne in Gelb. Wir gehen auf Abstand die Hänge hinunter. Ich erkenne die Neigung wieder und erinnere sie als eine Schwungbewegung auf Skiern. Es sind die vertrauten Pisten, auch wenn sie ohne Schnee andere Konturen haben. Wir finden: Haargummis, Tempos, einzeln und
in der Packung, runde Chipsschachteln, Schokoladepapier, Gummibärchentüten, ein Präservativ, Glasflaschen, Pet-Flaschen, eine verrostete Dose (schon von früheren Wintern), immer wieder Kippen (nicht aufgehoben) und ausgespuckte Kaugummis (aufgehoben), ein Taschenmesser, ein Handy, verrottetes Plastik von Tüten, undefinierbares Plastik, Skistöcke, Skistockteller. Sammeln als Zärtlichkeit zu den Wiesen, ein langsames Ablaufen der Hügel, die man sonst nur als Geschwindigkeit, als Schwung und Rhythmus, wahrnimmt. Unten am Hang wartet das Auto. Wir werden weitergefahren. Die Kinder hinten bei den Mülltüten auf der Ladefläche schreien jetzt den vereinzelten Wanderern und Radfahrern zu. Ihnen gehören diese Berge, die andern sind nur Touristen. Die Touristen versuchen, die Hände der Kinder abzuklatschen, die sie ihnen vom Wagen aus entgegenstrecken.
Hinterher, wieder an der Gondelstation, gibt es Bratwurst und Cervelat. Zwei Pappkisten, Senf und Ketchup, mit Plastikspender zum Drücken stehen neben dem Grill. Eine Lage Servietten. Auf den Biertischen Flaschen mit Rivella Rot. Wir schieben die Tische in die Sonne. Ich breche ein Stück von der Bratwurst ab, tunke sie in den Senf. Ich habe Hunger, und doch habe ich ein wenig Mühe zu essen.
Auf einmal ist die Szene wieder da. Ich war sechs, höchstens sieben Jahre alt. Es war der erste Tag nach
der Schuleinweihung, und in der großen Pause bekamen die Schüler aus einem großen Topf eine Brühwurst auf einen Pappteller gelegt. Alle Kinder gingen mit der Wurst auf dem Schulhof im Kreis herum und aßen die Einweihungswurst. Ich fand das so aufregend, daß ich die Wurst nicht anrühren konnte. Alle aßen ihre Wurst auf. Aber ich konnte nicht in die Wurst beißen. Es war so schön, daß alle zusammen diese Wurst bekamen zur Einweihung der neuen Schule. Nach der Pause saß ich im Klassenzimmer, die anderen hatten ihre Wurst schon lange gegessen. Nur ich hockte da mit dem Pappteller und der mittlerweile kalten Wurst, die ich aus blöder Ergriffenheit nicht hatte essen können. Ich glaube, ich aß sie dann ganz schnell auf, damit sie weg war. So war aus der Glückswurst die Schamwurst geworden. Und ich verstand nicht, was ich falsch gemacht hatte.
Am Tisch lerne ich Justina aus dem Puschlav kennen, wir waren in derselben Müllsammelgruppe, sie lebt seit dreißig Jahren in Scuol. Wie ich hat sie drei Kinder, die älteste Tochter ist 26, der jüngste Sohn, Pascal, der heute auch mithilft, ist 13 Jahre. Sie überlegt, ob er in der Ski-Renngruppe der JO bleiben soll. Mit 13, sagt
Weitere Kostenlose Bücher