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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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Sprache Vallader, dann kommt in der vierten Klasse Hochdeutsch dazu. Schweizerdeutsch müssen sie auch irgendwie lernen. Das sind dann schon drei Sprachen. Und dann noch Englisch. Das reiche doch.
     
    Blauer, leicht dunstiger Himmel. Weiße gezogene Nebelschwaden. Der schneeglänzende Gipfel des Piz Pisoc liegt in der Sonne. Vielleicht kommt der Sommer jetzt. (Und wir fahren nach Amerika.)

     
    Die kleinen, steilen Blumenwiesen im Dorf werden gemäht. Gefälltes Blau.
     
    Anke schreibt mir Mails. Wir arbeiten weiter an unserem Knigge für Sent-Touristen.

24. Juni
    Ida geht mit mir über den Friedhof. Es sind eine Handvoll Namen, sagt sie, Familien, die in zwei Linien miteinander verwandt sind. Es gibt den italienischen Zweig und den derer, die immer in Sent geblieben sind. Die meisten Gräber sind schmal, als Grabstein dient oft ein unbehauener Fels. Wir sehen auch Prachtgräber der Randulins aus dem 19. Jahrhundert. Defila, Crastan. Cafés und Kaffeeröstereien, sagt Ida, Geschäftsverflechtungen. Die eine Familie hatte die Rösterei, die andere hat den Kaffee ausgeschenkt. Dann die Corradinis. Sie besaßen eine Bank, die in Konkurs ging. Viele Senter hatten ihr Geld dort angelegt. Manche Senter Randulinsfamilien mußten nach Sent zurückkommen und wieder mit einer Kuh anfangen, oder sie blieben in Italien und verarmten dort. Die Corradinis aber blieben reich. Von den Familien, die untergehen, sagt Ida, hört man nichts, nur von denen, die Erfolg haben. Vital, Pult. Hier schau, sagt sie, das Grab des Malers Guglielmo Bazzell, 1897-1989, er hat das Engadin der Sehnsucht gemalt. Da saßen die Randulins am Meer, hatten so ein Bild von ihm
und träumten sich nach Sent zurück. Er hat ganz viel gemalt, alle hatten so ein Bild. Du auch? frage ich. Nein, sagt Ida, ich hab nicht so viel Platz. Wir lachen.
    Dann im oberen Teil des Friedhofs an der Nordmauer die Gräberfront der Corradinis aus poliertem Marmor. Da siehst du schon das Selbstbewußtsein, sagt Ida. Wir suchen und finden den Namen von Mara Corradini, der Malerin. Und hier, Sandri, sagt Ida, das ist die italienische Metamorphose des Namens Zonder, sie hatten ein ganz berühmtes Café in Florenz. Ida weiß von Liebesgeschichten und Selbstmorden, von Verwandtschaftsverhältnissen, die ich nicht verstehe. Die Welt besteht aus Großeltern und Cousinen und Schwägerinnen und Tanten. Und manchmal, sagt Ida, war in einem Familiengrab kein Platz mehr, da hat man einen Sarg in ein anderes gegeben, das auch irgendwie zur Familie gehörte. Die Gräber werden aufgelöst nach 25 Jahren, sagt Ida, wenn man sie nicht kauft. Und es gab immer wieder Zeiten, da konnte man keine Gräber kaufen. Wie ist es im Augenblick? frage ich. Ich weiß es nicht, sagt sie.
    Es ist sonnig, aber ein kalter Wind bläst. Am Sonntag, sagt Ida, habe ich in Guarda bei einer Taufe gespielt, da lag Schnee im Dorf, am Boden.
    Beim Heimweg bleibt Ida vor einer Gasse stehen. Schau, sagt sie, siehst du die Gasse? Jedes Haus tritt ein wenig zurück und erlaubt dem anderen, auch etwas zu sehen. Das ist die Mentalität der Brunnengemeinschaften. Die andere Mentalität siehst du am Dorfeingang.
Einzelne Häuer, mit Garten und Zaun, die sich gegen einzelne Häuser mit Garten und Zaun behaupten.
     
    Ida kommt zu mir nach Hause. Ich habe griechische Hühnersuppe vorbereitet. Matthias hat Petersilie aus dem Garten geholt, aber er hat schon vorgegessen. Als wir vom Friedhof kamen, habe ich ihn unten auf dem Fußballplatz gesehen.
     
    Abends. Der Himmel ist voller Schwalben. Segelnd, flatternd. Voller Piepsen und Zwitschern. Manfred und Matthias schauen ein Fußballspiel, Holland gegen Kamerun, ich höre es gegen die Vögel. Die Flügeltür ist offen. Ich sitze auf dem Balkon und schaue auf die Berge. Das Notebook auf dem runden Blechtisch. Der Schnee läuft in Adern das Felsgestein hinunter. Weißes Blut. Sommerschnee. Oben auf den Graten Glanz. Das bläuliche Licht, das rosa Licht auf den letzten Schneefeldern. Eine leichte rosa Wolke über dem Schneegipfel des Piz Pisoc. Das Wetter bleibt also gut. Wieso fahren wir nach Amerika?
    Morgen kommt Silvia. Vermutlich sitzt sie schon im Nachtzug. Ein paar Stunden haben wir zusammen.
     
    Kleines spätes Lichtprotokoll:
    21.28 Uhr, die bunten Farben sind verschwunden. Es ist die Stunde des wandernden Graus. Die Dächer, die Felshänge, der Himmel, die Wolken. Das Grau der Elefantenhaut, ein Fellgrau, Schuppengrau, Seegrau,
Spiegelgrau, Samtgrau, Flaschengrau,

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