Alle Farben des Schnees
sie, wird es ernst. In der Renngruppe trainieren sie auch im Sommer und im Herbst. Und sie gehen ins Samnaun (dort sind die Pisten länger offen). Sie sagt, sie wäre nie in ein altes Engadinerhaus gezogen. Das sei ihr zu dunkel. Sie wolle Licht. Sie haben in Scuol gebaut, vor 14 Jahren, sagt sie, modern, große Fenster. Ihre Schwiegereltern
sind, so wie sie es beschreibt, fast Nachbarn von uns. Ich sage, sie solle einmal klopfen, wenn sie in Sent ist. Ich sage, wir haben den zusammenfallenden Stall abgerissen, dann die Südseite des Wohnhauses verglast, wir haben auch Licht.
Mir fällt ein, daß Uorschla über den Wintertourismus klagte. Wie sie über uns herfallen, wie wir kaum noch Bus fahren können. Ich denke, ein Dorf ist kein Sportgerät. Als ich zu Manfred sage, hör mal diesen Satz: Ein Dorf ist kein Sportgerät, antwortet er, er habe in einem Lyrikseminar einmal Peter von Matt zitiert: ein Gedicht sei kein Turngerät. Wir lachen.
Sehr warmer Abend. Gegen 21.30 Uhr wird es dunkel. Ich habe die Blumen ums Haus gegossen. Im Garten gegossen. Gesehen, daß meine Weinstöcke kleine Trauben ausbilden, ziemlich viele kleine Trauben. Helen kommt mit Josch von der Grotta da cultura, die Saxophonklasse von Joschs Lehrer hat ein Konzert gegeben. Josch, sagt Helen, hat sehr gut gespielt. Es geht, sagt Josch. Wir stehen im Garten. Helen und Werner haben die Gartenmauer erneuern lassen. Jetzt fehlt noch der Holzzaun, schmale Latten. Helen sagt, sie will sie nicht mehr so hoch. Josch sagt, doch, sie müssen hoch sein, sonst springen die Hunde rein. Helen sagt, Hunde springen nicht über einen Zaun in einen Garten, auch nicht über einen niedrigen Zaun. Weißt du, sagt sie zu Josch, warum die Zäune früher so hoch waren? Wegen
der Hirsche, sagt sie. Aber heute hat es viel mehr Leute im Dorf, viel mehr Häuser. Die Hirsche kommen nicht mehr. Und wenn einer kommt, sagt sie, dann freue ich mich. Dann soll er fressen.
(Ich denke an Idas Hirsch. Ida hat mir Hagebuttenmark mitgebracht von dem Strauch, von dem auch der Hirsch gefressen hat.)
Im Jahr 1850 hatte Sent 920 Einwohner, also ungefähr so viele wie heute, und war damit die größte Gemeinde des Engadins. Scuol hatte damals 893 Einwohner, St. Moritz nur 212. (Zuoz 405, Samedan 361.)
13. Juni, Sonntag
Die Kühe grasen jetzt höher, man hört ihr Läuten von den Hügeln herab. Es ist warm, sonnig und leicht bedeckt. Der Gipfel des Pisoc liegt im Nebel. In der Nacht ein heftiges Gewitter. Jetzt keimt in den kleinen Gärten frisch die Aussaat. Setzlinge in Reihen, Petersilie. Schönschreibübungen in Grün. Unter dem Holunder liegt ein Schaf. Im Halbschatten schaut aus einem tiefen Fenster ein Pferdekopf. Ich fahre heute nach Luzern; die nächste Woche unterrichte ich an der Journalistenschule.
Nachmittags. Manfred hat mich an den Bahnhof gebracht. Ich setze mich in ein noch leeres Viererabteil gleich hinter der Tür. Ein Radfahrer nimmt sich den
Platz mir gegenüber. Er schwitzt. Beim Abfahren winkt er nach draußen; seine Kollegen spritzen gerade ihre Räder ab. Der Zug fährt los. Er kramt ein Brot aus seinem Rucksack, legt es auf das kleine Tischchen unter dem Fenster. Er geht auf die Toilette. Als er zurückkommt, beißt er ein paarmal heftig in sein Brot und wickelt es wieder ein. Er zieht den rechten Schuh aus und stellt ihn hoch auf die Bank. Er trägt schwarze Socken. Der linke Schuh bleibt auf dem Boden. Er lehnt sich zurück und beginnt, etwas in sein Handy zu tippen. Ich rieche seinen Schweiß. Ich versuche, mich so gut ich kann zurückzulehnen, um ihn nicht zu riechen. Er dampft. Ein großer, starker Mann, Anfang dreißig. Ich sitze in der Schneise seines Gemächtes. Ich möchte fort. Ich denke, es ist unhöflich aufzustehen und sich wegzusetzen. Der Zug ist voll. Ich versuche zu lesen, aber er riecht zu stark. Es ist frischer Schweiß, er hat am Morgen sicher geduscht, und er sitzt nicht absichtlich so da. Nur einfach aus selbstbewußter Unachtsamkeit. Er diskutiert mit dem Schaffner; ich verstehe, daß er nach Bern will. Ich rieche den Anhauch seines Genitals. Ausweglose Situation.
Hinter Klosters schlüpft er in seinen Schuh, steht auf. Er geht kurz weg. Er kommt zurück und nimmt seine Sachen und wechselt das Abteil. Vielleicht ist es im nächsten Waggon leerer.
Vielleicht rieche ich nach Knoblauch.
Sonntagabend Luzern, Hotel Schiff. Ich sitze am offenen Fenster, von unten die Schreie der Fußballfans. Ich höre auf dem Notebook
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