Alle Farben des Schnees
Lieder von Paulin Nuotclà, Vallader und Gitarre, ich habe Vallader-Kassetten in unserer Scuoler Buchhandlung gekauft. »Chantunet da cudeschs« (»Kleine Bücherecke«) ist die einzige Buchhandlung des Unterengadins. Vor 15 Jahren haben zwei Frauen mit Darlehen ihrer Männer gegen jeden professionellen Rat in den Räumen eines ehemaligen Sportgeschäfts eine Buchhandlung eröffnet. Sie werden nicht reich, sagen Christiana und Anni. Das, was am Monatsende übrig bleibt, zahlen sie sich als Lohn aus. Zu zweit arbeiten sie 110 %. Sie tragen immer Strickjacken, denn sie können ihre Buchhandlung nicht richtig heizen. Ich kenne sie nur lachend. Zusammen entscheiden sie über ihr Sortiment. Für uns ist ihre Buchhandlung ein unverhofftes Glück. Bücher, die in einer Schweizer Auslieferung sind, haben wir am nächsten Tag. Sonst dauert es eben ein wenig länger. Aber wir bekommen, was wir brauchen. Auch eine Buchhandlung ist Heimat. Und eine sichere Verbindung zur Welt.
Ich habe auch wieder Esthers CD »Top Memoria. Lirica rumantscha« dabei. Immer bin ich froh, wenn ich einen Halbsatz verstehe und manchmal auch einen Satz. Es gibt ja kurze Sätze.
Ich möchte ein Gedicht schreiben, etwa »Ökologische Wortschatzübung«, ein Spiel mit den Namen der Blumen, die wir auf den gerade schneefreien Hängen gesehen haben, groß und gelb, rosa, blau, flimmernd,
wie sie überraschend schön und selbstverständlich da waren und dazwischen das, was wir an Müll gefunden haben, an Abgebrochenem, Abgefallenem, Verlorenem, Ausgespucktem, Weggeworfenem. Dabei nicht vergessen: die Pfiffe der frisch erwachten Murmeltiere.
Nein, nicht wirklich Angst vor dem Unterricht morgen.
16. Juni
Hupen in Luzern. Als das 1:0 für die Schweiz im Spiel gegen Spanien fiel, rief ich Manfred an, er solle den Fernseher einschalten. Er hatte am Mittag gesagt, er müsse arbeiten, er könne nicht fernsehen. Jetzt kann er es nicht glauben. »Wir werden Weltmeister«, ruft er. Und weiß, daß das nicht stimmt. Das Glück des Außenseiters. Das reinste Glück. Ein Glück, das Sieger nicht kennen.
Samstag, 19. Juni
Sent. Der Hund kommt aus der Wiese, in seinem Fell die blauen Blüten vom wilden Salbei.
Uorschla gibt mir die kleine Glasflasche zurück, in der Rhabarbersaft war; sie hat sie mit Holunderblütensirup gefüllt.
21. Juni
Sommeranfang, wir tragen Wollpullover und Anoraks. Es schneit fast bis hinunter ins Dorf.
Am Abend Romanischunterricht mit Ruedi und Christian. In der Bibliothek ist es kalt. Ich mache die Heizung an. Wir sind schlecht und wir machen weiter. Nesa ist zuversichtlich. Ich sage, daß mir Ida einen Film über die Randulins ausgeliehen hat. Ja, sagt Nesa, auf diesem Film ist auch die Familie aus Sizilien, bei der ich war. Caflisch, sagt sie.
Es sind Netze, auch wenn man hier wohnt, man erwischt nur Zipfel der Geschichten.
Erzählst du mir einmal, wie du als junges Mädchen nach Sizilien gefahren bist, frage ich. Freilich, sagt Nesa.
22. Juni
1982 hat der Zürcher Sprachwissenschaftler Heinrich Schmid eine im Auftrag der Lia Rumantscha entwickelte Kunstsprache vorgelegt, die als eine gemeinsame Sprache für alle Romanen in Graubünden dienen soll. Sie ist vor allem als Schriftsprache gedacht, das Romanische Radio sendet jedoch auch Nachrichten in Rumantsch Grischun. Esther spricht es fließend. Bislang werden die Schulbücher in Graubünden in allen fünf rätoromanischen Idiomen gedruckt, in sehr niedrigen Auflagen. Das ist teuer. Nach einer Übergangszeit von
20 Jahren soll Rumantsch Grischun die Schriftsprache der Schulbücher sein. Wenn ich Esther frage, sagt sie, das Rumantsch Grischun sei eine praktikable Möglichkeit, das Romanische zu unterstützen. Wenn ich Leta, die Lehrerin, frage, sagt sie, das Rumantsch Grischun komme zu spät. Die romanische Sprachkompetenz in der Muttersprache sei schon zu schwach, um auch noch eine neue Kunstsprache zu lernen.
Ich denke an Hans Magnus Enzensberger, der sagte, so schnell stirbt eine Sprache nicht! Und es gebe doch immer Verrückte, die so eine Sprache neu lernten. Er sah mich an und hat gelacht.
Ich frage Cla Rauch, den ehemaligen Lehrer, der die schöne Website von Sent macht. Er sagt, wenn die Texte der Behörden in Rumantsch Grischun abgefaßt seien, könne er das schon verstehen, aber nicht die Schulbücher! Die Kinder mögen es nicht. Er habe Versuche gemacht. Die Kinder wollen die Geschichten in ihrer Muttersprache lesen. Er sagt: die Kinder lernen Schreiben in ihrer
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