Alle Farben des Schnees
Wellengrau. Dann Löschpapiergrau gegen Osten, Seidenpapiergrau gegen Süden, Gischtgrau gegen Westen im letzten Licht. Und dann doch noch für eine ausblassende Sekunde über der Silhouette des Waldes: Gold.
21.41 Uhr, das Grau intensiviert sich in ein Blau.Weiße, nur leicht graue Schäfchenwolken. Leichter Wind jetzt. Flacher Azur über dem S-chalambert. Wolken wie auf Renaissancegemälden über der Lischanagruppe, die wie ausgeschnitten daliegt. Die Spitze des Senter Kirchturms erleuchtet. Der Piz Pisoc ein aristokratisches Siegel, das den Brief des Himmels verbürgt.
21.46 Uhr, jetzt ist es zu dunkel, um zu schreiben. Ich sehe die Buchstaben der Tastatur nicht mehr. Restlicht.
Gestern sagte Seraina, die Architektin: Ja, der Sommer hat begonnen, aber scheu. Man sagt, der Schnee muß noch einmal kommen, und dann wird es warm.
Freitag, 25. Juni
Ganz klarer Himmel, glasblau. Morgensonne. Die Berge nah. Überscharfe Konturen. Der Kirchturm scheint mit dem Felsenmassiv des Piz Pisoc verwachsen. Beim Aufstehen war das alte Kupferdach des Rezia schwarzfeucht
vom Tau der Nacht, jetzt ist es schon zu mattem, buntem Grau getrocknet. Das Ziegeldach daneben glüht wie erhitzt, da, wo die Ziegel fehlen, kommt das helle Blech hervor, Brokat aus Rost.
Gestern die Jahresausstellung der Schüler in der Turnhalle. Ab Nachmittag ist sie geöffnet. Die Werkarbeiten aller Klassen sind ausgestellt. In einem zweiten Raum, wo es Kaffee und Kuchen gibt, hängen lange gerade Schürzen an der Wand. Patchworkarbeiten aus verschiedenen Stoffen. Matthias hat für mich eine Schürze genäht aus einem Stoff, der mit Erdbeeren bedruckt ist, und verschiedenen Stoffen mit Fischen drauf. Ich habe alle Fische genommen, die es gab, sagt er. Von den höheren Klassen Arbeiten in Speckstein, ein kleiner Brunnen, eine Skulptur mit einem Skateboarder, geschreinerte Regale, Holzspiele. Von den Kleinen gestrickte Pudelmützen, gefilzte Körbe. Die hohe Turnhalle ist geschmückt mit Gesägtem, Gemaltem, Geklebtem. Auf dem Klassentisch von Matthias liegen die Jahresbücher der einzelnen Kinder. Die Schüler arbeiten unter dem Jahr auf Blättern, die sie in einem Ordner aufbewahren. Nun am Ende sind alle Blätter nach Fächern geordnet und gebunden. Die Arbeit eines Jahres liegt auf dem Tisch und jeder kann darin blättern. Die Schüler zeigen, was sie versucht, was sie geleistet haben. Bis abends um 21 Uhr ist die Turnhalle offen. Man schaut, ißt und trinkt zusammen. Das Dorf feiert seine Schüler.
Heute kommen die Kinder beladen mit ihren Bastelarbeiten durch die Gassen, sie jonglieren sie auf den Köpfen, haben sie unter die Arme geklemmt. Auch Matthias wird seine Werke heimbringen. Was im Haushalt nicht unterkommt, wird aufgenommen in die Verliese des Steinkellers, wo sich schon eine bunte Gesellschaft der letzten Jahre versammelt hat: ein großer, gesägter Elch und gefaltete Enten, Sterngirlanden aus Transparentpapier, ein Riesenküken, ein Pinguin aus Pappmaché.
Wenn es mit dem Schreiben nicht weitergeht, den Hund nehmen, hinausgehen, durch die Gassen mit den dicken Häusern, die mehr erlebt haben als ich, darüber die kleine Ewigkeit der Berge und das Blau. Bis zur Kreuzung, dann dem mittleren Weg folgen oberhalb des Friedhofs, parallel zum Inn. In die Wiesen hinausgehen oder in die Ebenen des Schnees.
Die Stärke, die Sicherheit der Natur. Sie entlastet vom Ichsein. Mein Hund hat vier Beine, ich habe zwei.
Heu. Die Süße des Blumenheus. Das ganze Dorf duftet. Am Brunnen wäscht eine Nachbarin Flaschen aus. Bist du fleißig, sage ich. Ja, vor der Abfahrt, sagt sie. Sie fahren nach Chicago und zu den Niagarafällen und nach Boston. Kommt doch in Middlebury vorbei, sage ich. Sie lacht, nein, sie bleiben weiter nördlich. Wir wünschen uns eine gute Reise.
Samstag, 26. Juni
Silvia hat uns und die Koffer mit dem Auto nach Scuol gefahren. Sie bleibt beim Hund. Sie hat eine Arbeit im Hotel Val Sinestra gefunden, Frühstück richten, putzen. Ich hatte Wanda aus dem Chor, die das Hotel leitet, gefragt.
Mir ist bang. Ach Mama, sagt Silvia, es ist doch nur Amerika. Weißt du, manche Leute machen das jede Woche.
Im Flugzeug. Der kleine Bildschirm an der Rückenlehne des Vordersitzes. Die Landkarte mit dem Flugzeug-Cursor: Zürich-Brüssel-Nottingham-Manchester. Matthias sieht Alice in Wonderland. Draußen Wolken. Ich will raussehen, aber das natürliche Licht verschlechtert die Sicht auf den Film. Außerdem sieht man
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