Alle Farben des Schnees
wirklich nur Wolken. Matthias zieht das Fensterschild wieder hinunter. Schräg vor mir hat eine Passagierin ein flaches Gerät dabei, auf dem sie ihren eigenen mitgebrachten Film anschaut. Sie trägt voluminöse Kopfhörer und dicke Wollsocken, die Schuhe hat sie ausgezogen. Sie scheint im Flugzeug zu Hause zu sein. Die Motoren sind sehr laut. Ich habe es in einem Flugzeug nie so laut empfunden. Ist es eine besonders alte Maschine oder bin ich durch die Stille in Sent geräuschempfindlicher geworden?
Ich denke an gestern abend. Wir haben erst in der Nacht gepackt. Matthias und ich teilen uns einen Koffer. Als Erstes legt er hinein: einen Fußball, eine Fußballpumpe, Fußballschuhe. Comics. Das Ladegerät für den Photoapparat, das Stromkabel für den Nintendo. Ich lege die Klaviernoten dazu, das Wörterbuch Vallader-Deutsch, die Formensammlung »Verbs Valladers«. Noch ein paar Bücher. Silvia geht vorbei und schaut auf den offenen Koffer am Boden. Ihr spinnt, sagt sie.
Matthias bringt die Kleider, die er braucht. Ich lege meine dazu. Seit Griechenland trage ich Schwarz. Im Sommer auch Weiß, und für den Hochsommer gibt es irgendwo das eine oder andere bunte Kleid. Ich lege noch Matthias’ Regenjacke darauf und meine Fahrradjacke, beide sind rot. Der Koffer ist zu drei Viertel voll. Wenn ich alleine reise, habe ich nur Handgepäck. (Eine alte Jack-Wolfskin-Rucksacktasche, die leider nicht mehr hergestellt wird, und eine PC-Tasche.) Ich schaffe auch eine Woche Lesereise mit Handgepäck. Ich sehe nie wirklich gut aus, aber auch nicht auffällig schlecht. In Odessa, wo wir auf Europas größtem Freiluftmarkt, dem 7km-Markt für gefälschte Markenartikel, heimlich recherchierten, hat mir der Photograph Kirill Golovchenko ein wunderbares Kompliment gemacht. Angelika, sagte er, du bist nahezu unsichtbar.
Isle of Man - Belfast. Nach etwa zwei Stunden fliegen wir über dem offenen Atlantik. Ich kämpfe mit Matthias um das Öffnen des Fensterschildes. Er will den
nächsten Film sehen, ich möchte hinausschauen. Meist setzt er sich durch, denn man sieht vor der Scheibe nur Nebel, Helle.
Später Blau. Absolutes Blau. Dann trennt ein blasses, vages Weiß das plane Blau des Himmels vom planen Blau des Wassers. Auf einmal glänzt ein beißend weißes, unregelmäßiges Klötzchen. Wir sehen ein Schiff. Kann man bei einer Transatlantikfahrt blaublind werden?
Bald mehrere Klötzchen. Inseln kommen. Unter uns liegt Amerika.
Während des Flugs lese ich Lutz Seilers Essay »Im Kieferngewölbe«, in dem er vom Wohnen und Schreiben im Huchel-Haus, Wilhelmshorst, erzählt. Er spricht von einem kleinen Fenster, dem »Auge« unter dem Dach, von dem aus man, die Treppe hinaufsteigend, für einen Moment den Findling sehen kann, den Huchel sich als Grabstein ausgesucht hat. »Der durch das winzige Fenster gerahmte Ausblick erinnert dann an Robert Frosts Gedicht ›Home Burial‹: ›The little graveyard where my people are! / So small the window frames the whole of it. / Not so much larger than a bedroom, is it?‹« Wer Frosts Pastorale lese (und den Kommentar von Joseph Brodsky), erfahre so gut wie alles von dem, was man »über Bewegung, Dramatik und die Führung des Blicks im Gedicht wissen kann. Und obwohl immer wieder auf das typisch Amerikanische in den Gedichten Frosts hingewiesen wird, erscheint
mir sein ›North of Boston‹ nicht weit entfernt von dieser Gegend.« Und ich lese dies und sehe auf den Flugzeug-Cursor, der sich in diesem Augenblick von Norden kommend Boston nähert, und dann sehe ich aus dem kleinen Fenster in ein Weiß hinein, hinter dem Sent liegt.
Middlebury, Vermont. Amerika riecht gut. Der erste Eindruck nachts in Burlington die Feuchtigkeit. Erinnerung an die Tropen.
Nach der ersten Nacht will Matthias sofort in Sent anrufen. Über Skype. Ah, sagt Raffaella, die Mutter von Fabio, du bist jetzt in Amerika. Ja, sagt Matthias. Dann spricht er mit Fabio.Was, sagt Fabio, bei dir ist es neun Uhr morgens? Bei uns ist schon Nachmittag, nach drei. Das Faszinierende der anderen Zeit. Ich denke, wer noch außer diesen beiden Buben spricht im Augenblick romanisch über den Atlantik?
Sonntag
Die zweite Nacht hat es durchgeregnet. Matthias kommt morgens in mein Bett. Er sagt: Es hat geschneit. Ich sage, du meinst, es hat auf die Berge heruntergeschneit. Er grinst. Er will wieder über Skype mit Fabio sprechen. Er weiß jetzt, wie er das Programm aufrufen und welche Ziffern er wählen muß.
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