Alle lieben Merry
“Entschuldigen Sie bitte die Unordnung. Nachdem Charlie heute Morgen zur Schule gegangen ist, habe ich mit dem Streichen begonnen …”
“Ja. Wie auch immer. Ich bin gekommen, weil mir einige beunruhigende Dinge zu Ohren gekommen sind, über die ich gerne mit Ihnen reden möchte.”
“Ja? Charlie geht es wunderbar in der Schule. Möchten Sie Kaffee? Oder Tee?”
Mrs. Innes wollte Tee. Mit Milch. Und sie war einer dieser Teebeutelschwenker … jene Sorte Mensch, die den Teebeutel in der Tasse schwenkten und schwenkten und schwenkten, statt das verdammte Ding einfach im heißen Wasser ziehen zu lassen.
In der Küche stapelte sich das Frühstücksgeschirr in der Spüle, die Geschirrspülmaschine war noch nicht ausgeräumt und der Fußboden auch nicht gerade preisverdächtig sauber. Mrs. Innes Augen entging nichts.
Merry hatte keinen Zweifel, dass sich die Situation verschlimmern würde.
Noch vor ein paar Tagen – und eigentlich ihr ganzes Leben lang – war sie ein unverbesserlicher Optimist gewesen, der auch mitten in einem Tornado noch den Silberstreif am Horizont gesehen hatte. Aber die letzten paar Tage … Tja, Charlene war am Samstagmorgen mit Zahnschmerzen aufgewacht. Am Wochenende einen Zahnarzt ausfindig zu machen hatte sich schwierig gestaltet, vor allem, da Charlene nicht zu Merrys Zahnarzt, sondern zu einem wollte, der schmerzfreie Behandlung garantierte. Nun gut. Merry hatte die halbe Nachbarschaft durchtelefoniert, bis ihr jemand einen entsprechenden Zahnarzt nennen konnte, und hatte sich dann auf der Fahrt in die Praxis verfahren – was jedoch nichts im Vergleich zur Rückfahrt gewesen war, auf der sie sich ebenfalls verirrt hatte. Als sie wieder zu Hause waren, war Charlene übel gewesen, und Merry hatte zwei Nachrichten von Jack auf dem Anrufbeantworter vorgefunden. Er würde die Jungs zurück zu seiner Exfrau bringen und sich dann sobald wie möglich wieder melden.
Nett. Kommunikation via Anrufbeantworter. Eine Komplikation jagte die nächste. Natürlich hatte sie damit gerechnet, dass Jack Zeit brauchte, um sich um Cooper zu kümmern. Sie wusste, dass das Vorrang hatte. Aber in der Zwischenzeit sorgte sie sich nicht mehr nur um Cooper, sondern auch um Charlene und hatte außerdem etliche Nächte wegen Jack nicht mehr schlafen können.
Wegen Jack, der ihr nicht vertraute. Der offensichtlich keine ernsthafte Beziehung wollte, da er ihr nicht widersprochen hatte, als sie das Thema vorsichtig angesprochen hatte. Merry hatte sich zigmal gesagt, dass sie nicht an eine gemeinsame Zukunft glaubte. Wegen ihrer eigenen Mutter hatte sich ihr unauslöschlich die Erkenntnis eingebrannt, dass sie anderen Menschen nicht wichtig genug war, damit sie bei ihr blieben. Nicht wichtig genug für die Menschen, die sie liebte.
Deshalb erwartete sie von niemandem eine dauerhafte Beziehung. Und ganz gewiss hätte sie es nicht von einem Mann erwarten sollen, den sie wahrscheinlich nie getroffen hätte, wenn sie beide nicht zufällig nebeneinander wohnen würden. Zwei schlaflose Nächte hintereinander hatte sie sich gesagt, dass nur ein Idiot von ein bisschen Sex und guten Gesprächen auf eine mögliche Verbindung fürs Leben schließen würde. Sie war kein Idiot. Sie war nur jene Art Mensch, die bei allem immer fünfhundert Prozent gab.
Und dann den Preis dafür bezahlte.
“Diesen Freitag werde ich dem Richter meinen Bericht vorlegen.” June schwenkte ihren Teebeutel noch immer hin und her. “Meines Wissens wurden Sie darüber aufgeklärt, dass Sie nur zum vorläufigen Vormund bestimmt wurden. Egal, ob Mr. Ross Sie als Vormund seiner Wahl vorgesehen hat oder nicht – letztlich obliegt dem Gericht die Verantwortung für das Wohl des Kindes, vor allem unter so ungewöhnlichen Umständen wie in diesem Fall.”
“Ich verstehe.” Merry hatte von dem Kaffee, den sie sich eingeschenkt hatte, noch keinen Schluck getrunken. Sie bezweifelte, dass ihr Magen im Augenblick irgendetwas vertragen würde. Sie saß einfach da und versuchte, Mrs. Innes gegenüber so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Aber das war es nicht. Eigentlich war überhaupt nichts in Ordnung.
Es war nicht nur das schmutzige Geschirr, das sich in der Spüle stapelte. Auch der Berg Schmutzwäsche, der vor der Waschmaschine lag, war nicht zu übersehen. Und an den Wänden hingen statt Charlies wertvoller moderner Kunst die riesigen Bilder, die Charlene und sie mit Fingerfarben gemalt hatten. Aber verdammt, all das war nicht wichtig. June Innes’
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