Alle lieben Merry
hatte sie June Innes Bild vor ihrem geistigen Auge – beziehungsweise das Bild einer Person, die June Innes ähnlich war und Charlenes Vormund werden sollte. Ein Mensch mit äußerst starren Ansichten, der alle Antworten kannte. Alle
seine
Antworten. Nicht Charlenes.
Das war es, wovor Charlie Ross vor vielen Jahren Angst gehabt hatte – dass niemandem seine Tochter am Herzen lag. Dass niemand sie um ihrer selbst willen lieben würde.
Aber Merry tat es.
Sie konnte Charlene nicht einfach im Stich lassen – nicht, ohne um sie zu kämpfen. Richtig zu kämpfen. Zu kämpfen, um zu gewinnen – koste es, was es wolle.
Dieser Gedanke führte sie zu einem anderen.
Jack.
Sie mochte sich zwar eingestanden haben, dass sie ihn liebte, aber bis jetzt war sie vor jeder schmerzvollen Konfrontation mit ihm davongerannt. So, wie sie es immer getan hatte. Immer hatte sie eine gute Entschuldigung gehabt wegzulaufen, statt sich zu stellen.
Um das zu bekommen, was sie in ihrem Leben haben wollte – alles, was sie brauchte und liebte –, musste sie aufhören wegzurennen. Und nicht nur darüber reden. Sondern handeln.
Zwei Minuten, nachdem Merry ein Schaumbad mit Mandelöl eingelassen und sich in die Wanne gelegt hatte, läutete das Telefon. Sie konnte es nicht fassen. Den ganzen Tag über war ununterbrochen etwas zu tun gewesen, und sie war so müde, dass sie kaum noch klar denken konnte. Zuerst hatte sie das Zimmer gestrichen und dann mehrere Male mit Lee telefoniert, danach das Abendessen gekocht, ein wenig aufgeräumt und Charlene in die Bibliothek gefahren. Jetzt wollte sie einfach nur das heiße Vollbad genießen und die Welt um sich herum vergessen.
Stattdessen sprang sie aus der Wanne und schnappte sich ein Handtuch. Sie konnte den Anruf nicht ignorieren. Längst schon hätte sie ihren Dad und Lucy zurückrufen sollen. Sie hob beim nächstbesten Apparat ab. Es war Jack.
Seine Stimme umhüllte ihre strapazierten Nerven wie Seide.
“Ich konnte mich beim besten Willen nicht früher melden”, entschuldigte er sich. “Cooper und Kevin sind wieder bei ihrer Mutter, also hätte ich jetzt Zeit. Aber ich nehme an, dass du dich wahrscheinlich um Charlene kümmern musst.”
“Charlene ist eigentlich bis einundzwanzig Uhr in der Bibliothek. Ihr Geschichtslehrer hat sich ein tolles Projekt für die Kinder ausgedacht. Er will ihnen beibringen, wie sie sich Informationen aus verschiedensten Quellen zusammensuchen können, und hat dafür eine Art Schatzsuche …” Mann, was redete sie da? Ihr Herz schlug vor Freude Purzelbäume, weil sie seine Stimme hörte, und was tat sie? Nass und zitternd stand sie da und schnatterte wie eine Gans in den Hörer. “Egal. Jedenfalls brauche ich sie nicht vor neun Uhr abzuholen.”
“Dann … hättest du eventuell Zeit, etwas trinken zu gehen? Zum Beispiel drüben im ‘Wiley’s’?”
“Etwas trinken?”
“Ja. Ich dachte, es wäre nett, irgendwo miteinander zu reden, wo keine Kinder sind und wo man ungestört ist. Ich möchte dir nämlich gern von meinem Gespräch mit Cooper erzählen. Du wirst es nicht glauben.”
Er wollte über die Kinder reden, dachte sie. Nicht über sie beide. Trotzdem, sie war entschlossen, nicht mehr aus der Angst heraus, verletzt zu werden, davonzulaufen. Außerdem war es ihr ein großes Bedürfnis, dass Jack die Wahrheit erfuhr. Egal, was dann passieren würde.
Sie rief Charlene auf dem Handy an, damit das Kind Bescheid wusste, wo sie zu erreichen war. Dann kramte sie in ihrem Make-up-Köfferchen, auf dem sich mangels Verwendung zwar keine richtige Staubschicht, aber doch so etwas Ähnliches gebildet hatte,
Allzu viel Zeit wollte sie nicht verschwenden, da es schon neunzehn Uhr war. Sie zog rasch einen weiten roten Pulli, Jeans und hochhackige Schuhe an und legte etwas Mascara auf. Dann noch etwas Lidschatten und hellroten Lippenstift, fertig.
Nach einem Tag voller Kummer und Verzweiflung wegen June Innes tat es gut, an die frische Luft und auf andere Gedanken zu kommen. Ins “Wiley’s” zu gehen war sogar noch besser. Es war vielleicht nur die Kneipe um die Ecke, aber immerhin saßen dort nicht ausschließlich feiste Männer mit Bierbauch, die sich auf einer Großbildleinwand Sportübertragungen anschauten. In Zeiten wie diesen, in denen die halbe Welt geschieden war, war das ‘Wiley‘s’ ein Ort, wo Singles einfach nett plaudern konnten. Die Kneipe war nicht extravagant eingerichtet, aber mit ihren Holzwänden, dem Fußboden aus Schiffsplanken,
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