Alle lieben Merry
Er wollte etwas sagen. Versuchte es. Aber irgendwie brachte er keinen Ton heraus.
“Du musst einfach … lieb zu ihm sein. Ihn ernst nehmen, okay? Es ist mir egal, wie alt er ist. Er ist so furchtbar unglücklich. Es tut weh … den falschen Menschen zu lieben … jemanden zu lieben, der einen enttäuscht. Es spielt keine Rolle, wie alt man ist.”
Er wollte wieder etwas sagen, aber er wusste nicht genau, von wem sie sprach. Von Coop? Von ihm?
Von sich selbst?
Vom Leben? Verdammt, vermutlich passierte es jedem einmal, von demjenigen enttäuscht zu werden, den man liebte. Seine Reaktion war gewesen, eine Mauer um sein Herz zu errichten. Warum hatte Merry das nicht getan? Wie war es möglich, dass sie immer noch ein so offener, gebender, großzügiger Mensch war?
Wie war es möglich, dass er das früher nicht erkannt hatte?
“Äh, Jack? Ist unser Gespräch hiermit beendet?”
Zum Teufel, nichts war zwischen ihnen beendet, dachte er. Nur brachte er in diesem Augenblick kein einziges Wort heraus. Keines, das irgendeinen Sinn ergeben würde.
“Okay”, sagte Merry plötzlich. Ihre Hand verschwand von der Scheibe. Sie drehte sich um, sodass sie ihm den Rücken zuwandte. “Ich verstehe schon, was los ist”, fuhr sie eilig fort. “Es geht um die Sache von gestern Abend. Als du die Frage, ob du mir vertraust, nicht beantworten konntest …”
“Merry …” Endlich hatte er die Sprache wiedergefunden. Doch Merry fiel ihm sofort ins Wort.
“Schon in Ordnung. Ich habe dich in eine unangenehme Situation gebracht, und das tut mir leid. Es gibt keinen Grund, warum du mir vertrauen solltest, Jack. Wir hatten eine kleine … Affäre, mit der keiner von uns gerechnet hat. Es war schön und hat Spaß gemacht. Es war viel beiderseitige Zuneigung und auch Leidenschaft im Spiel, und die Chemie hat gestimmt. Aber es ist nicht so, dass wir uns bis über beide Ohren verliebt hätten, nicht wahr? Du hast doch nicht geglaubt, dass ich es ernst genommen hätte, oder?”
Er räusperte sich. “Merry, ich habe wirklich nicht …”
Er hörte sie kurz und leise auflachen. “Ich bin ein klassisch flatterhaftes Wesen. Ich wollte mich nie binden – an nichts und niemanden. Niemals. Solltest du dir also wegen der Geschichte auch nur die geringsten Sorgen gemacht haben, kannst du dich sofort beruhigen. Und jetzt geh und kümmere dich um Coop, okay?”
Sie legte auf und machte das Licht aus.
Er legte ebenfalls auf. Aber er blieb am Fenster stehen und starrte über den Hof zu ihrem dunklen Fenster, weil sie sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Sie saß einfach da, immer noch mit dem Rücken zu ihm. Bewegungslos.
Warum, um Himmels willen, dachte er, warum, zum Teufel, habe ich das Gefühl, als hätte ich ihr schon wieder wehgetan? Wenn es doch ihre Schuld war, dass sie ihn von Anfang an nicht zu Wort hatte kommen lassen?
Doch Jack wusste nur allzu gut, dass es höchste Zeit war, den Mund aufzumachen und die richtigen Worte zu finden. Allerhöchste Zeit.
Oder er würde Merry verlieren, bevor er überhaupt die Chance gehabt hatte, sie zu erobern.
18. KAPITEL
W enn das Leben einer Frau zerbrach, wenn Menschen, die sie mochte, in Schwierigkeiten waren, wenn vier ganze Tage lang nichts richtig gelaufen war und man erschöpft war, sollte man doch meinen, dass das Schicksal einmal eine kleine Pause einlegen könnte, oder? Nur eine einzige! Eine klitzekleine!
Als es am Montagvormittag klingelte und June Innes vor der Tür stand, öffnete Merry mit einem Lächeln. Doch am liebsten wäre sie unter einen Stuhl gekrochen und hätte geheult.
“Ich glaube, ich hatte Ihnen gesagt, dass ich unangemeldet vorbeikommen würde.”
“Ja, ich weiß, Sie hatten es angekündigt”, sagte Merry fröhlich und trat beiseite, damit die Verfahrenspflegerin hereinkommen konnte. Mrs. Innes’ Gesichtsausdruck war ungefähr so freundlich wie der eines Kampfhundes. Sie trug einen Rock aus grünem Fischgrätstoff und eine Polyesterbluse mit spitzem Kragen. Die Löckchen auf ihrem Kopf kringelten sich so stark, dass sie gut und gerne als Sprungfedern durchgehen würden.
Andererseits war Merry sich bewusst, dass sie nicht unbedingt in einer Position war, in der sie über andere lästern durfte. Sie hatte ihr Haar zu schlampigen Zöpfen geflochten, war barfuß, und ihr altes T-Shirt und die Jeans waren mit Farbklecksen übersät. Mit rosa Klecksen. Farbtopf und Pinsel tropften im Gästezimmer vor sich hin und würden bestimmt bald eintrocknen.
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