Alle lieben Merry
Gesichtsausdruck hingegen war es sehr wohl.
Merry war so nervös wie ein Kind, das man zum Direktor gerufen hatte. Sie hatte eigentlich keine Angst vor June. Die Frau gab ihr lediglich das Gefühl, als wäre sie völlig allein auf der Welt und stünde vor dem Abgrund.
“Da Sie heute gekommen sind”, sagte sie, “nehme ich an, Sie möchten mir erzählen, welche Empfehlung Sie dem Richter geben werden.”
“Ja. Aber lassen Sie mich zuerst
Sie
fragen, wie es dem Kind Ihrer Einschätzung nach geht.”
Merry witterte eine Falle. Dennoch war sie der Meinung, dass diese Frage nur ehrlich beantwortet werden konnte. “Charlene ist kein durchschnittliches Kind. Kein Kind ist das, glaube ich. Aber Charl ist … etwas so Besonderes. Sie ist extrem intelligent, aber sie ist auch selbstsicherer als die meisten anderen Kinder. Ich glaube, dass die Liebe ihres Dads für ihre Persönlichkeit eine unglaublich starke Basis war. Aber momentan …”
“Momentan?”, hakte Mrs. Innes sofort nach.
“Momentan geht es ihr gut – oberflächlich. Ihre Noten sind fantastisch, und sie nimmt an vielen verschiedenen Aktivitäten außerhalb der Schule teil. Sie treibt Sport, hat Hobbys und Freunde. Aber …” Merry zögerte. Vielleicht musste sie ja nicht
total
ehrlich sein, dachte sie. Doch weniger Ehrlichkeit schien ihr unangebracht. “Ich glaube nicht, dass sie den Tod ihres Vaters wirklich überwunden hat. Sie ist – im Gegensatz zu mir – kein Mensch, der seine Gefühle ohne Weiteres zeigt. Aber ich glaube, dass tief in ihrem Inneren ein unheimlich großer Schmerz begraben ist, den sie einfach noch nicht bereit ist zuzulassen.”
June hätte sich nicht abrupter aufsetzen können, wenn ein Speer sie von hinten getroffen hätte. “Ich habe Ihnen doch mehrmals gesagt, dass Sie unbedingt mit ihr zu einem Trauertherapeuten gehen sollen.”
“Ich habe das als Empfehlung aufgefasst, nicht als Anweisung. Und nicht ich war gegen diesen Vorschlag, Mrs. Innes, sondern Charlene.”
Mrs. Innes nahm einen Bleistift aus ihrer Tasche und begann damit auf dem Tisch zu trommeln. “Sie ist das Kind. Von Ihnen wird erwartet, dass Sie entscheiden, was Charlene tut und was nicht. Sie selbst kann nicht beurteilen, was gut für sie ist.”
“Ich stimme Ihnen teilweise zu. Aber in einem Punkt tue ich es nicht. Sie ist kein Baby. Sie wurde sehr selbstständig erzogen und hat klare Vorstellungen davon, was sie will und braucht.”
“Und Sie wissen das, weil Sie selbst schon so viele Kinder erzogen haben?” June sprach weiter, ohne Merry eine Chance zu geben, etwas darauf zu erwidern. “Von der Schule habe ich erfahren, dass sie immer noch in diesen merkwürdigen Kleidern herumrennt. In den Sachen ihres Vaters. In Männerkleidung.”
“Das tut sie. Manchmal.”
“Und sie hat immer noch eine Frisur wie ein Junge.”
“Meistens. Nicht immer.”
“Trotzdem haben Sie sie nicht zu einem Therapeuten gebracht? Und Sie lassen es immer noch zu, dass sie sich mit einem Jungennamen anreden lässt?”
“Charlie war der Name ihres Dad. Die Kleidung, die sie trägt, hat ihm gehört. Es hat nichts damit zu tun, dass sie ein Junge sein will. Es ist wegen ihres Vaters …”
Mrs. Innes seufzte. “Das haben Sie bereits gesagt. Aber Sie scheinen zu glauben, das wäre ein Entschuldigungsgrund. Einige Dinge, die sie macht, sind nicht normal, sondern abartig.”
“Moment mal, bitte.” Merrys Magen krampfte sich vor Ärger zusammen. “Ich weiß nicht, was Sie unter ‘normal’ verstehen. Mir jedenfalls ist bewusst, dass Charlene manchmal ungewöhnliche Dinge tut, aber sie ist auch kein ‘gewöhnliches’ Kind. Ich habe versucht, ihr zuzuhören. Versucht zu hören, was ihr Herz und ihre Gefühle sagen, und auf ihre Bedürfnisse zu reagieren …”
“Das klingt ja alles sehr nett”, bemerkte Mrs. Innes trocken. “Aber ich hatte immer schon Bedenken, ob Sie die Lage richtig einschätzen. Es geht nicht nur um ihr Haar und ihr äußeres Erscheinungsbild oder darum, dass Sie mit ihr nicht zu einem Trauertherapeuten gegangen sind. Sondern darum, dass ihr Vater scheinbar eine völlig unpassende Person als Elternersatz für seine Tochter ausgesucht hat. Sie sind jung, alleinstehend und werden zwangsläufig irgendwann eine Beziehung mit einem Mann eingehen und Charlenes Leben dadurch erneut durcheinander bringen. Sie erlauben es sich, Entscheidungen zu treffen, ohne auch nur die geringste Erfahrung in der Erziehung von Kindern oder eine Ahnung von
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