Alle lieben Merry
“Genauso wie du von deiner Exfrau im Stich gelassen wurdest.”
“Es ist nicht das Gleiche.”
“Nein, natürlich nicht. Denn du warst kein Kind mehr. Erwachsene erwarten keine bedingungslose Liebe voneinander. Aber möchte nicht jeder Mensch glauben, dass er unersetzbar ist? Wenigstens für irgendjemanden? Vielleicht sind wir nicht unersetzbar. Aber es tut höllisch weh, wenn wir herausfinden, dass es wirklich so ist … oh, verdammt!” Sie hatte die ganze Zeit Jack angesehen und keinen Blick auf ihre Armbanduhr oder die Uhr an der Wand geworfen. Doch das laute Gelächter von einem der Nebentische hatte sie aufblicken lassen. Es war zwanzig Minuten vor neun. Wenn sie nicht sofort aufbrach, würde sie zu spät zur Bibliothek kommen. Sie hatte immer Angst, Charlene irgendwo warten zu lassen, weil sie befürchtete, die Kleine könnte glauben, man habe sie vergessen.
Jack hatte die Getränke bereits bezahlt, und als sie sich erhob, sprang er ebenfalls auf. So wie er sie anschaute, hatte er ebenso wenig auf die Uhrzeit oder die Leute um sie herum geachtet. Er sah sie so intensiv an, dass ihr ganz warm ums Herz wurde.
“Ich muss gehen”, sagte sie. “Aber ich wollte dir schon vor einer ganzen Weile sagen, dass ich verstanden habe.”
“Dass du was verstanden hast?”
Sie schüttelte schnell und entschlossen den Kopf, nahm ihre Handtasche und wandte sich ihm zu. Obwohl sie keine Zeit mehr verlieren durfte, schloss sie die Augen, bevor sie ihn küsste. Es war nicht nur ein Kuss, sondern ein Kuss, der zu verstehen gab: “Ich liebe dich, und es ist mir egal, wenn es die ganze Welt erfährt”. Nur eine kleine Bewegung mit dem Kopf. Nur ein zartes Streicheln mit den Lippen. Nur ein Gefühl, das ganz kurz verweilen durfte, bevor es sich in ein Versprechen verwandeln konnte.
“Ich habe verstanden, dass du nicht vorhast, mich zu lieben”, murmelte sie. Es war wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, wie es ihr gelang, das auszusprechen, was ausgesprochen werden musste. An einem öffentlichen Ort, wo keine Kinder mit dabei waren und sie beide ihre Kleider anhatten. Und wo sie so in Eile war, dass sie keine Gefahr lief, zu emotional zu werden.
Als er ihr nicht sofort widersprach, drängte sie das schmerzliche Gefühl, ihn verloren zu haben, rasch zurück. “Es ist in Ordnung, Jack. Ich bin froh, dass wir Freunde sind. Mir ist völlig klar, warum du nicht mehr von mir willst. Ich hatte gehofft, dass mehr daraus wird, das gebe ich zu. Aber das ist nur deshalb passiert, weil du für mich so unglaublich leicht zu lieben bist, weißt du? Nicht, weil ich vorhatte, mir Kummer einzuhandeln.”
Sie lächelte ihm freundlich zu – zumindest hoffte sie, dass ihr Lächeln freundlich und ehrlich bei ihm ankam – und verließ rasch das Lokal.
In weniger als zwei Stunden hatte sich die Abenddämmerung in düstere Nacht verwandelt. Schwere Wolken hingen am Himmel. Von Westen hörte man gefährliches Donnergrollen. Sie roch den kommenden Regen in der Luft. Es war schwül – im Vergleich zu den Temperaturen am ersten März in Minnesota sogar ungewöhnlich warm. Plötzlich vermisste sie ihr Zuhause so sehr, dass sich ihr Blick verschleierte und sie alles ringsherum nur mehr verschwommen wahrnahm.
Oder waren es Tränen, die sie blind machten? Verdammt, sie hatte nur gesagt, was gesagt werden musste, oder? Sie war nicht davongelaufen. Vielleicht hatte sie gehofft, er würde ihr widersprechen, gehofft, er würde erwidern, dass er sich schrecklich in sie verliebt und endlich jemanden gefunden habe, den er nie mehr hergeben würde, nämlich sie. Aber sie glaubte nicht an Märchen und hatte mit so einer Antwort auch nicht wirklich gerechnet. Sie hatte versucht, ehrlich zu ihm zu sein, damit er wusste, dass sie nicht so naiv war, wie er glaubte.
Jetzt aber musste sie ihre Tränen wegwischen, bevor Charlene sie so zu Gesicht bekam. Charlene war diejenige, die wichtig war. Und deshalb musste Merry wieder fröhlich sein.
Es würde ihr gelingen.
Es gelang.
Im selben Moment, als Merry vor der Bibliothek hielt, kam Charlene die Treppen heruntergesprungen. Sie lud ein Dutzend Bücher ins Auto und stieg ein. “Na, wie war’s, Liebes?”, fragte Merry.
“Es war
grauenhaft”
, behauptete Charlene. Doch sie war eindeutig bester Stimmung. “Was für eine gemeine Übung. Wirklich, richtig gemein. Wir haben stundenlang dafür gebraucht. Ich habe mit Dougall, Mike, Greta und George zusammengearbeitet. Mike versteht echt was von
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