Alle lieben Merry
äußerst merkwürdig, kurz aufzutauchen und dann wieder in seinem Haus zu verschwinden, nur weil er sie nicht beim Weinen erwischt hatte.
Er zögerte und versuchte, die Situation einzuschätzen. Heute war es wärmer. Zwar nicht wirklich mild, aber wenigstens nicht eisig und stürmisch. Sie hatte ihr Haar mit einem dieser Clips hochgesteckt, die Frauen verwenden. Nicht für eine Frisur, eher aus der Notwendigkeit heraus, das Haar aus dem Gesicht zu halten. Leider war dadurch der Blick auf die lange, schlanke Linie ihres Halses, auf ihr klares Profil, die gerade Nase, die schönen Lippen und ihre Haut frei, die so makellos und glatt war wie ein Babypopo.
Sie trug Rosa. Ein dickes Kapuzensweatshirt und Jogginghosen – also nichts, was ihre Figur besonders betonte. Und trotzdem merkte man, wie zierlich sie gebaut war. So weich. So rundum weiblich.
Das Allerletzte, was er wollte, war, dass ihm noch mehr Dinge an ihr auffielen, aber es ließ sich nicht verhindern, dass er die dunklen Ringe unter ihren Augen bemerkte. Sie mochte vielleicht nicht geweint haben – aber sie saß sicher nicht aus reiner Freude im Dunkeln auf der Verandatreppe.
Von gestern hatte er allerdings etwas gelernt. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, reichte ihr einen Pappbecher und stellte einen weiteren neben sich. Dann zog er den Jack Daniels heraus.
“Für mich besser nichts. Nicht vor Charlie.”
“Ist sie vielleicht hier irgendwo zu sehen?”
“Nein. Aber sie ist in ihrem Zimmer und lernt. Sie kann also jederzeit kommen.”
“Na gut, du kannst ja weiter die Heilige spielen. Aber mich und ihren Vater hat sie schon gesehen, wenn wir früher hie und da einen Drink genommen haben. Und ich habe nicht bemerkt, dass sie davon ein Trauma bekommen hätte, also habe ich dein Problem nicht. Ich nehme an, dein Tag war nicht so besonders?”
“Sie ist von der Schule nach Hause geschickt worden, weil sie sich geprügelt hat.”
Ihm blieb der Mund offen stehen. “
Charlene?”
Merry nickte. “Ja. Nur hat sich das – so verrückt es auch klingt – als das Einfachste von dem erwiesen, was heute auf dem Programm stand.” Unvermittelt griff sie nach seiner Flasche, schenkte sich ihren Pappbecher gut zur Hälfte voll und nahm einen Schluck. Sofort schüttelte es sie, und sie riss den Mund und die Augen weit auf, als könnte das Feuer so wieder entweichen. Und verdammt, er musste lachen.
“Wow. Das ist etwas stärker als ein Glas Wein”, bemerkte sie trocken.
“Wirkt auch schneller. Also, wie war das mit der Prügelei?” Er konnte noch immer nicht glauben, dass das stille, kleine Küken von nebenan, das seinem Vater wie ein Schatten überallhin gefolgt war, eine Schlägerei angezettelt hatte.
“Sie hat deswegen natürlich Schwierigkeiten mit der Schule bekommen. Aber wir haben uns zum ersten Mal richtig gut verstanden. Ich habe sie nicht ausgeschimpft. Es gab meiner Meinung nach keinen Grund dafür. Sie wusste schon, dass sie etwas Falsches getan hat. Ich habe nur gesagt, dass ich auf ihrer Seite sein möchte und mich freuen würde, wenn sie mir die Chance dazu gibt, indem sie mir erzählt, was passiert ist.” Merry nahm noch einen Schluck und schüttelte sich wieder, als der Whisky ihr im Hals brannte. “Eine Weile lief es total gut. Sie hat begonnen, sich mir gegenüber zu öffnen. Und alles war wunderbar, bis wir begonnen haben, im Haus ein bisschen Ordnung zu machen. Verdammt, Jack, das Kind hat Schusswaffen. Schusswaffen!”
Tja, offensichtlich war dies wieder ein Gespräch, bei dem er sich nicht so schnell aus dem Staub machen konnte. Aber als Jack sich neben sie setzte, achtete er sehr darauf, zwischen ihnen gute dreißig Zentimeter Abstand zu lassen. Und nach nochmaliger Überlegung rutschte er sogar noch weiter weg – fast bis zum Blumenbeet. Ein halber Meter Abstand war sicherer. “Ich habe einen Verdacht, wie die Geschichte weitergeht …, aber sie hat dir bestimmt gesagt, dass die Gewehre ihres Dads keine richtigen Waffen sind, oder?”
“Aber natürlich sind es Waffen! Was soll ein Gewehr denn sonst sein als eine Waffe? Um Himmels willen, sie ist elf Jahre alt. Ein Baby!” Sie genehmigte sich noch einen Schluck vom Feuerwasser und reichte ihm ihren Becher. “Sie waren in seinem Zimmer. Und Charlies ganzes Zeug gehört jetzt natürlich seiner Tochter. Sie wollte sie mit in ihr Zimmer nehmen und sie dort aufbewahren. Das Allerletzte, was ich wollte, war, mich mit ihr zu streiten, da wir doch endlich
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