Alle lieben Merry
und begann aufgeregt zu plappern, noch bevor sie überhaupt einen Blick auf den Besuch geworfen hatte. “Mrs. Innes, ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Charlene müsste jeden Augenblick von der Schule heimkommen. Ich habe schon mal Kaffee gemacht. Kommen Sie doch herein!”
“Ich trinke keinen Kaffee, aber danke. Sie haben ja draußen ein ziemliches Chaos.”
“Ja, am Samstag ist durch den Sturm ein Baum umgeknickt. Glücklicherweise war der Mann von der Versicherung großartig. Auch der Dachdecker war schon da, und die Männer, die sich um den Baumschaden kümmern, sind heute Mittag mit Kettensägen angerückt. Aber leider war es nicht möglich, alles so schnell wieder in Ordnung zu bringen.”
“Sie sind also Merry”, unterbrach die Frau Merrys Redeschwall und musterte sie von oben bis unten, als prüfe sie einen Ballen Stoff.
Merry schluckte. Oh Gott, oh Gott. Es war eine gute Entscheidung gewesen, die June-Cleaver-Nummer abzuziehen, denn June Innes selbst sah wie eine ältere Version der berühmten Fernseh-Mom aus. Pumps. Eine Frisur, bei der jedes Haar seinen festen Platz hatte. Ein Kleid, das über die Knie reichte, ein marineblaues kurzes Mäntelchen und blaue Handschuhe. Ein müdes Lächeln. Ein Lächeln der märtyrerhaften Art, das zu verstehen gab, dass sich kein Mensch eine Vorstellung davon machen konnte, was für eine tüchtige Person sie war. Merry nahm es gelassen. Sie kannte einige dieser märtyrerhaften Leute – wer tat es nicht? Mit Märtyrern kam sie zurecht. Sie wollte so sehr, dass dieses Treffen ein Erfolg war, dass sie sich auch bemüht hätte, mit Attilla, dem Hunnenkönig, gut auszukommen.
Sie folgte June in die Küche, da June automatisch zu bestimmen schien, wohin es ging.
“Nach dem Tod ihres Vaters habe ich mich selbstverständlich mit Charlene getroffen. Mr. Oxford hat Ihnen sicherlich meine Funktion erklärt. Das Gericht hat mich als Verfahrenspflegerin für das Kind bestimmt. Ich bin aktives Mitglied der Rechtsanwaltskammer von Virginia und erfülle auch alle anderen juristischen Voraussetzungen.”
“Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt”, sagte Merry freundlich, aber offenbar war ihre Meinung nicht wirklich von Belang.
“Meine Aufgabe ist es, das Kind zu vertreten”, fuhr June fort. “Das bedeutet, dass ich mich regelmäßig mit Charlene unterhalten werde – und auch mit Ihnen sowie mit anderen Leuten, die mit dem Mädchen zu tun haben, zum Beispiel mit Lehrern und Nachbarn. Ich werde auch unangekündigt hierher kommen. Dieses Mal habe ich meinen Besuch allerdings angekündigt, weil ich sowohl Sie als auch Charlene in der häuslichen Umgebung sehen wollte. Wie kommen Sie miteinander aus?”
“Sehr gut. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?”
“Sie sind jünger, als ich erwartet habe. Oder Sie sehen jünger aus.”
June sprach jedes Wort sehr klar und präzise aus – so, als hätte sie Phonetik studiert oder eine Ausbildung in gespreiztem Gehabe absolviert. Mittlerweile hatte Merry sie dazu bewegen können, sich an den Küchentisch zu setzen – was klüger schien, als sie im Wohnzimmer mit der Hundeknochen-Couch und der “Roten Dominanz” sitzen zu lassen. Und nun versuchte Merry, angeregt Konversation über Hausaufgaben, Kinderalltag und gesunde Ernährung zu führen.
Als die Tür zur Küche laut aufgestoßen wurde, schnellte sie allerdings hoch.
Charlie kam herein und ließ ihre Schultasche auf den Boden plumpsen. Dann drehte sie sich plötzlich um, stutzte und warf Merry einen entsetzten Blick zu. “Hallo, Mrs. Innes.”
Für einen Moment schien es June die Sprache verschlagen zu haben. Offensichtlich hatte sie Charlie noch nicht mit Bürstenschnitt und Army-Klamotten gesehen. Sie warf Merry einen missbilligenden Blick zu.
“Na, wie geht’s?”, sagte Charlie und öffnete den Küchenschrank – den, in dem normalerweise die Kekse waren. Keine Kekse da … Sie nahm sich einen Apfel vom Tisch.
“Danke, gut. Wie war es in der Schule?”
“Total geil”, sagte Charlie. June Innes hob eine Augenbraue. “Eine Weile war ich mir nicht sicher”, fuhr Charlie fort, “ob ich Mathe in der Achten mag. Ich meine, die anderen sind mir ja zwei Klassen voraus. Aber langsam freunde ich mich damit an. Klar, ich muss diesen Dougall ertragen, aber was soll’s. Was ziemlich cool ist, ist der Computerkurs. Hey, muss ich eigentlich hier bei euch beiden sitzen, oder kann ich Hausaufgaben machen gehen?”
“Ich möchte mich ein paar Minuten mit dir
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