Alle lieben Merry
“Wir sind beide erschöpft und hatten eine kurze Nacht. Du solltest im großen Stil jammern.”
Charlie musste sie gehört haben, kam aber einfach wieder auf das ursprüngliche Problem zurück. “Was ist, wenn die Farbe nicht weggeht?”
“Tja, dann könnte einiges passieren. Eine Möglichkeit wäre, dass wir diesen rotvioletten Fleck bis zum Sankt Nimmerleinstag haben. Eine andere, dass jemand im Baumarkt weiß, mit welchem Mittel man die Farbe wegbekommt. Eine dritte Möglichkeit ist, dass wir Panik kriegen, den ganzen Boden herausreißen und einen neuen verlegen. Vielleicht einen ohne Flecken. Egal ob wir uns für A, B oder C entscheiden – ich glaube, das Leben geht weiter.”
Charlie lächelte. “Ich weiß.”
Merry wünschte nur, das Lächeln wäre echt. Aber sie schienen heute wieder beim alten Zustand angelangt zu sein. Charlie gab ihr in allem recht. Sie bemühte sich, brav wie eine Heilige zu sein – außer, man erwischte sie versehentlich an einem wunden Punkt. Wenn man zum Beispiel die Sprache auf den Dougall-Jungen und den Streit in der Schule brachte.
Aber ihr Bravsein machte Merry langsam Angst. Himmel, bei Jack war Charlie natürlich und ausgelassen gewesen, hatte sich auf den Boden vor dem Fernseher geflegelt, während des Actionfilms unaufhörlich Kommentare abgegeben und Pizza gemampft. Bei ihr benahm sich Charlie so vornehm und höflich wie eine Gräfin. Vielleicht nicht ganz so schlimm. Aber fast.
Sie würde es nicht durchhalten, dachte Merry. Man konnte sich vielleicht Fremden gegenüber hinter einer tapferen Fassade verstecken, aber da, wo man zu Hause war, musste man es sich erlauben können, die Maske fallen zu lassen. Man brauchte so einen Ort, wo man sich sicher fühlen konnte.
Merry verstand das Problem. Nur wusste sie nicht, wie sie Charlies Vertrauen wecken sollte, und diese Sorge ließ sie auch am nächsten Tag nicht los, als sie auf June Innes wartete. Während Charlie in der Schule war, bereitete sie sich auf das Treffen so sorgfältig vor wie auf ein Vorstellungsgespräch. Saugte Staub. Versteckte die fröhlichen neuen Bilder in einem Schrank, ließ stinkende Socken und Schuhe verschwinden, verstaute die Kekse ganz oben im Küchenschrank und verteilte für jedermann gut sichtbar Schalen mit frischem Obst im Haus. Anschließend widmete sie sich ihrem eigenen Aussehen. Sie zupfte sich die Augenbrauen, rasierte sich die Beine und mit Hilfe ihrer sämtlichen Schminktöpfe versuchte sie, sich einen matronenhaften Look zu geben – kein Augen-Make-up, kein auffallender Lipgloss. Sie steckte das Haar hoch, zog ein Jeanshemd und flache Schuhe an und entschied sich für ihre am wenigsten elegante Armbanduhr.
Ab drei Uhr ging sie nervös im Wohnzimmer auf und ab und schaute ständig aus dem Fenster, ob June Innes’ Auto bereits zu sehen war. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Vor vier Wochen war sie noch der Sonnenschein von Minnesota gewesen und hatte fröhlich in den Tag hinein gelebt, allzeit bereit für ein neues, aufregendes Abenteuer. Ihre Bank wusste, dass sie gelegentlich ihr Konto überzog. Die Verkäuferinnen bei BCBG, ihrem liebsten Designershop, kannten sie mit Namen. Sie hatte nie einen Job gehabt, auf den sie nicht von heute auf morgen hätte verzichten können. Und sie konnte sich an keinen Samstagabend ohne Musik, Ausgehen und Männerbekanntschaften erinnern.
Sie war glücklich gewesen.
Durchgehend glücklich.
Glücklich, sorglos und unbeschwert. Hatte nichts ausgelassen. Hatte sich über jeden neuen Tag gefreut, jeden Sonnenstrahl, jedes Lachen und jede Umarmung genossen.
Und jetzt … jetzt sah sie ihr blasses Spiegelbild im Fenster und erkannte sich nicht wieder. Das war die Enkelin von June Cleaver – der perfektesten Hausfrau und Mutter aller amerikanischen Fernsehserien – die ihr entgegenschaute. Eine bleiche Frau, die sich sorgte, ob das Haus sauber genug war – ein Haus, das zu allem Überfluss auch noch den Charme eines Raumschiffs hatte.
Es war hart genug, das Leben einer Fremden zu führen, aber als Vormund für nicht gut genug befunden zu werden wäre das Schlimmste. Ein dunkelblauer Sedan parkte in der Einfahrt hinter ihrem Mini. Merry setzte ein gewinnendes Lächeln auf und eilte zur Tür. Okay, es war gespielt. Na und? Was war falsch daran, ein paar Minuten June Cleavers Enkelin zu mimen? Verdammt, sie brauchte Mrs. Innes wirklich auf Charlies Seite und für sich selbst als – hoffentlich – gute Ratgeberin.
Sie öffnete also die Tür
Weitere Kostenlose Bücher