Alle lieben Merry
er musste sie absetzen, damit sie wieder auf ihren eigenen Beinen stand. Er ließ sie also los, konnte sich aber trotzdem nicht von ihr trennen, behielt sie im Arm und lehnte seinen Kopf an ihren. Seine Augen waren geschlossen.
“Jack”, flüsterte sie.
“Ich kann nicht sprechen. Und ich kann meine Augen nicht öffnen. Denn wenn ich es tue und sich herausstellt, dass ich mit dir in einer Art Waschküche geschlafen habe, muss ich mir selber einen Ziegelstein auf den Kopf hauen.”
Sie gluckste vor Lachen. “Wir hätten uns etwas Bequemeres suchen können, nicht wahr?”
Wir? Es war doch Männersache, den Ort auszusuchen! Dafür zu sorgen, dass es für eine Frau angenehm war. Es war Männersache, Verantwortung zu übernehmen.
“Merry.” Sie schmiegte sich an ihn, aber er zog sie noch fester an sich. “Sag mir, dass du die Pille nimmst.”
“Ich nehme die Pille.”
“Nein, du sollst mir nicht sagen, was ich hören will. Du sollst wirklich sagen, ob du verhütest.”
“Ja.”
Schweigen. Es war so schwierig für ihn, zu atmen und Luft zu bekommen, wo er doch nichts mehr wollte als noch ein paar Jahre in ihr zu bleiben. Auf einer Matratze. Nicht im Stehen. In einem gemütlichen, warmen Bett mit einem Kissen. Nicht in einem Raum ohne Fenster und ohne Teppich, wo es überall nur scharfe, kalte Ecken gab – außer dort, wo sie war. “Hm. Ich überlege gerade, ob es irgendetwas gibt, dass ich noch falsch machen könnte”, sagte er. “Aber soweit ich es beurteilen kann, habe ich alles so falsch gemacht, wie man nur kann.”
“Nein.” Da. Sie bog ihren Kopf zurück. Sie sah so wunderbar verschlafen aus mit ihrem zerzausten Haar, mit diesen Augen, die schwarz wie die Nacht waren, und der Haut, die weiß wie das Mondlicht schimmerte. “Du hast alles perfekt gemacht. Das kannst du mir glauben.”
Er streichelte ihre Wange. Egal, was sie sagte, er wusste nur zu gut, dass sie im Eilzugtempo unterwegs gewesen und der Zug entgleist war. Er konnte sie nicht ins Bett bringen. Konnte nicht einmal viel länger bleiben, weil im Haus ein Kind schlief. Natürlich konnte er sie auch nicht zu sich nach Hause mitnehmen, wo seine Jungs im Wohnzimmer lagen. Und er und Merry standen nackt da – zumindest fast, er hatte noch seine Socken an – und froren nach Mitternacht in einem Wäscheraum ohne Fenster.
“Ich will nicht nach Hause”, sagte er grimmig.
“Ich weiß, aber du musst gehen. Ich kann dich wegen Charlene nicht hierbleiben lassen. Das wäre nicht richtig. Es ist also in Ordnung, wenn du gehst, Jack.”
Nein, das war es nicht. Nichts war in Ordnung. Sie wirkte plötzlich ein bisschen verlegen, ein bisschen schüchtern. Vor ein paar Minuten war sie noch völlig ungehemmt gewesen, aber nun schien sie es eilig zu haben, sich in ein Handtuch zu wickeln. Sich zu bedecken. Es war ein völlig normaler Impuls in Anbetracht der eisigen Kälte, die von draußen durch den Spalt unter der Tür hereindrang – aber das alles wäre kein Thema gewesen, wenn er nur den Mut und das Feingefühl besessen hätte, mit ihr gleich auf ehrenwerte Weise zu schlafen.
“Danke, dass du mir bei der Valentinsveranstaltung geholfen hast, auf die Kinder aufzupassen”, sagte sie, als er schließlich in der Tür stand. Er war wieder vollständig angezogen. Dachte er.
Auf jemanden aufpassen. Ja, genau. Sie hatten es so gut hingekriegt … bis er nach Hause gekommen und niemand da gewesen war, der auf ihn aufgepasst hatte.
Merry sang am nächsten Morgen nicht unter der Dusche, weil Charlene noch schlief. Nachdem sie jedoch den Wasserhahn zugedreht, ein Handtuch geschnappt und sich schwungvoll abgetrocknet hatte, sprang sie ins Schlafzimmer. Während sie überlegte, was sie anziehen sollte, vollführte sie vor dem Kleiderschrank ein paar außergewöhnlich verwegene Tanzbewegungen. Verdammt, das Leben war schön.
Okay, mehr als schön.
Keine Frage, in letzter Zeit war es ihr nicht gerade fantastisch gegangen. Sie war nicht wirklich deprimiert gewesen, aber die Probleme um sie herum hatten sie regelmäßig überfordert. Charlene, die so verschlossen war. Charlene, die den Tod ihres Dads immer noch nicht ganz akzeptiert hatte. Sie selbst, der es schwergefallen war, sich an das ihr fremde Leben in einer Vorstadt zu gewöhnen und der es immer noch nicht gelungen war, June Innes von ihren Fähigkeiten als Vormund zu überzeugen – deren sie sich ja auch selbst nicht ganz sicher war. Und schließlich ihre Rolle als seriöse Hausbesitzerin,
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