Alle lieben Peter
Lümmels. »Klaut Hühner, geht mit Herrchen saufen, und unser Peterle, unser süßes, kleines Peterchen, mein Fliegenbein, mein Jenseitsauge — verkommt derweil auf Tantenkissen! Halt aus, Peterle, halt noch ein bißchen aus, nur ein ganz kleines bißchen!«
Aber am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte >Prächtig< herausgeholt und wäre zu ihm gefahren. Diese Erscheinung da aus dem Teich — diese Augen —, er hatte mich gerufen, ich wußte es. Über tausend Kilometer hinweg hatte er mich gerufen. Herrchen sollte helfen! Und Herrchen konnte doch nicht.
10
Nun war es schon der 14. November. Die Tage krochen. Die Tage und die Nächte. Für Peter gingen sie ineinander über, wurden zu einer einzigen Symphonie des Leides, des grenzenlosen Verlassenseins, des unaufhörlichen Vermissens. Äußerlich schien er immer ruhiger zu werden. Das, was Tante Helene ihm in zärtlicher Bemühung an Extrahäppchen, Liebkosungen und langen Ansprachen bot, nahm er in matter Freundlichkeit entgegen. Es war aber nicht so, daß er nun langsam erlosch. Im Gegenteil: alles in ihm spannte sich mehr und mehr an, gleich einer Feder, die immer enger und enger zusammengedreht wurde. Wofür? Er wußte es selbst nicht. Wußte nur, daß dies hier nicht das Ende war, nicht sein konnte. Herrchen und Frauchen waren noch da. Sie dachten an ihn — er fühlte es. Es war ein Schmerz, ein süßer Schmerz dieses Gefühl, und es fraß allmählich die tiefsten Schichten seines Unterbewußtseins an.
Es war Nacht. Peter hockte unter seiner Decke und horchte in die Finsternis. Cocki — Herrchen — Frauchen. Da war er wieder, der Schmerz, aber so stark wie noch nie. Er hob den Kopf und stieß ein langes, auf und ab schwellendes Wolfsheulen aus. Es drang herauf aus dem unterirdischen Zentral-Ich aller Hunde, aus jener Tiefe, wo die Erinnerungen an Urururgenerationen gestapelt liegen, die ihren Schmerz und ihre Einsamkeit über die endlosen Steppen heulten.
Die Tür tat sich auf, und das Menschengebirge im Nachtgewand erschien: »Was ist denn los, Peter, was heulst du denn mitten in der Nacht?«
Dieses Menschengebirge! Plötzlich haßte er es, weil es ihn von allem fernhielt, das er liebte — dieses dumme, dicke, nichts verstehende Menschengebirge! Und langsam ging er auf die Frau zu, die Haifischzähne gefletscht, Hölle in seinen Augen. Tante Helene wich zurück und klammerte sich an den Herd: »Peter!«
Sie warf einen Topf mit Wasser um — er rollte vor Peters Füße und bespritzte ihn mit seinem Inhalt.
Er fuhr zurück und setzte sich wieder auf sein Kissen. Tante Helene sah ihn noch immer entsetzt an. Eine große Bitterkeit stieg in ihr auf: »Peter, wie konntest du nur! Du hättest mich ja gebissen, Peter, wenn nicht der Topf hier...«
Aber wie er so dasaß auf seinem Deckchen, nun wieder eine demütige schwarze Jammerfigur, unendlich einsam vor dem mitleidlosen, makellosen Weiß der Kacheln, rührte er ihr Herz. Sie kniete sich ächzend vor ihm nieder und streckte — noch etwas vorsichtig — die Hand gegen ihn aus: »Peterchen?«
Er hob das linke vordere Fliegenbein und legte es auf ihren dicken Finger. Seine Negeraugen mit zwei weißen Halbmonden an jeder Seite sahen sie bittend an: »Versteh mich doch!«
Tante Helene schluckte. Ihre Hand fuhr durch seine Stirnlocke: »Na, hast wohl schlecht geträumt, und ich habe dich erschreckt. Leg dich hin, ich deck’ dich zu.«
Er kauerte sich hin und zog die Beine unter den Leib wie ein kleines Reh. Die Decke ließ er ganz still über sich ziehen.
Sie stand müde wieder auf, sah ihn eine Weile kopfschüttelnd an. Dann seufzte sie, löschte das Licht und schloß leise die Tür.
Und wieder war es Vormittag. Peterchen war die übliche Viertelstunde mit Tante Helene auf dem Gäßchen gewesen. Sie ließ ihn jetzt immer los, denn er machte schon lange keine Ausflüge mehr, beroch nur seine Stammbäume, erledigte das Übliche und trottete dann mit nickendem Köpfchen und schlackernden Ohren hinter ihr her ins Haus. Genau das gleiche hatte sich auch heute abgespielt. Nun lag er wieder auf dem Kissen und döste. Tante Helene saß am Fenster und strickte. Draußen war es neblig, die letzten Dahlien hingen traurig die Köpfe, und der Steinzwerg glänzte vor Nässe. Peterchens magere Flanken hoben und senkten sich gleichmäßig. Sein rötlicher Zauselbart lag auf den schmalen Pfoten. Gleich dunklen, traurigen Schemen glitten wieder Erinnerungsbilder durch seinen Sinn. Er lag auf der Schwelle des
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