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ein halbes
Jahr her, dass ich Jan das letzte Mal gesehen hatte. Meine Haare waren länger, ich war nicht mehr so braun. Wenn ich saß, konnte man meinen, ich wäre groß. War ich aber nicht. Ich hatte einen zarten Knochenbau und einen Schwanenhals. Ich war ziemlich mager und je nach Blickwinkel konnte ich als Ballerina oder als zarter Knabe durchgehen. Ich hatte dunkle Augen, ausgeprägte Wangenknochen und große Zähne. Nichts davon war für sich genommen bemerkenswert. Noch nie hatte mir jemand gesagt, ich hätte schöne Augen, tolles Haar oder traumhafte Haut. Alle Einzelheiten fügten sich einfach ordentlich zu einem Ganzen.
Bei Neiman Marcus hatte mich eine Kollegin einmal gefragt: »Wie ist es denn, wenn man schön ist?« Wenn die Leute einen für schön halten, bemüht man sich vor allem, nett zu sein. Man wird ständig als Konkurrenz betrachtet - als die Frau mit dem spannenderen Leben -, und alles nur, weil sich die einzelnen Gesichtszüge auf angenehme Art ergänzen. Die Frau, die mir damals die Frage gestellt hatte, war selbst hübsch; ihr Gesicht sah dem eines Botticelli-Engels nicht unähnlich. Ich winkte lachend ab. Ich sähe nun wirklich nicht außergewöhnlich aus, meinte ich. Ich finde, dass die Sache mit der Schönheit meistens überschätzt wird.
Ich holte zwei Fotos von Jan hervor. Auf dem einen, das ich vor der Basilika vom Heiligen Blut gemacht hatte, war er im Profil zu sehen; das andere, in einer Kneipe in Gent geschossen, zeigte zwei Drittel seines Gesichts. Es erinnerte mich wieder an seine besondere Anziehungskraft. Sein Außeres war faszinierend, weil es so speziell war. Allein deswegen wollte ich ihn wieder sehen.
Ich sah ihn jetzt vor mir. Ich sah mich selbst vor mir. Wir waren beide am Bahnhof Zoo in Berlin. Letztes Jahr im Spätsommer. Wir lernten uns kennen, weil ich kein Deutsch konnte. Er sah, wie ich mich mit dem Bahnbeamten abmühte. Ich sagte immer nur wieder: Ich spreche kein Deutsch. Jan griff ein und half mir, meine Fahrkarte zu bekommen. Er war weniger attraktiv als beeindruckend; er hatte ein Gesicht, dessen Kanten in ein kubistisches Gemälde gepasst hätten. Es waren seine Augen - blassblau, beinahe farblos -, die mich sofort für ihn einnahmen. Ich war planlos genug, um den Rest des Tages mit ihm in irgendeinem Cafe am Kurfürstendamm zu verquatschen und zu vertrinken, während unsere Knie sich unter dem Tisch immer wieder berührten. Ich fand heraus, dass er ein Edelsteinhändler war, dessen Job ihn überall hinführte; er war in Gegenden gewesen, die ich unbedingt sehen wollte, aber vielleicht niemals sehen würde - Goa, Johannesburg und so weiter. Gegen Abend hatte ich das Gefühl, dass ich ihn schon ewig kennen würde. Draußen vor dem Cafe gab er mir seine Visitenkarte. Wenn ich nach Belgien käme, sollte ich ihn anrufen. Als er zum Abschied meinen Arm berührte, schien seine Hand zu brennen.
Wir verbrachten vier Tage in Brügge in einem Hotel mit blauen Fensterläden und einem Fahrradparkplatz vor dem Haus. Wir tranken viel und schlenderten um den Marktplatz herum. Und wir schliefen miteinander. Der Sex mit Jan war irgendwie anders: langsam und methodisch, nicht unbedingt leidenschaftslos, aber von einer gewissen Trägheit wie das Land selbst. Und er war außerdem klösterlich still - etwas, das ich bis dahin noch nie und seitdem nie mehr erlebt hatte. Der Abschied war schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Damals dachte ich, dass ich mich in ihn hätte verlieben können. Aber das war lange her.
Bevor ich mich aufs Ohr legte, nahm ich mir einen Bogen Briefpapier und kritzelte eine ganze Seite voll mit liebeskrankem Bläh an Jan. Ich zerriss den Brief wieder und begann von vorn. Ich brauchte drei Versuche, bis ich etwas zu Papier brachte, das nicht lächerlich klang. Ich sagte nicht mehr, als er auch getan hatte - dass ich ihn wieder sehen wollte. Ich klebte den Umschlag zu, pappte Briefmarken darauf und brachte ihn zum Briefkasten. Ich war mir nicht sicher, ob Jan ihn noch rechtzeitig bekommen würde. Sobald die Klappe über den Briefschlitz fiel, wurde mir flau im Bauch. Vielleicht hatte ich vorschnell reagiert.
Als ich wieder oben ankam, hatte ich eine Nachricht von Carmi auf dem Anrufbeantworter. Er sei gut angekommen. Das Rauschen und Knistern im Hintergrund war so laut, dass ich ihn kaum hören konnte. Er sagte noch etwas von einem Paket, das ich annehmen sollte - so klang es jedenfalls, aber die Wörter kamen so verzerrt an, dass ich nicht richtig
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