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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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»Sie haben sie völlig verdorben. Sie ist keine richtige Äthiopierin mehr.«
    Helen verdorben? Sie war die Klassenbeste, eine hochbegabte Schülerin, Fußballstar, Siegerin bei Wettläufen, vielversprechende Klavierspielerin, hübsch, lustig, im Begriff, vier Sprachen zu lernen (zu Amharisch und Englisch, das sie schon bei ihrer Ankunft gekonnt hatte, lernte sie noch Spanisch und Hebräisch). Sie verdorben? Ich erwiderte nichts darauf, aber ich war tagelang beleidigt, bis eine Freundin sagte: »Melissa, es stimmt. Sie ist eine kleine Amerikanerin geworden.« (Wenigstens gestand mir Haregewoin zu, dass meine damals zwölfjährige Tochter Lily sehr höflich und ganz reizend sei. Genau wie ein wohlerzogenes äthiopisches Mädchen!)
    Froh stellte Haregewoin fest, dass ihre über das ganze Land verstreut lebenden, ehemaligen Pflegekinder bei ihren amerikanischen Eltern Glück erlebten und Liebe erhielten. Sie wurde außerdem von Adoptivfamilien mit äthiopischen Kindern, die sie nicht gekannt hatte, willkommen geheißen. Sie erzählten lustige Geschichten von der Eingewöhnung der Kinder in Amerika. Einige von ihnen waren mit Entwicklungsstörungen oder seelischen Problemen, die von dem frühen Verlust der Eltern und ihrer schwierigen Kindheit herrührten, angekommen, aber in der Mehrzahl hatten sie in den ersten Lebensjahren eine Familie gehabt, waren von ihren Müttern gestillt und geliebt worden. Sie waren mit Großeltern und Geschwistern aufgewachsen, hatten sich um Tiere gekümmert und auch sonst bestimmte Pflichten gehabt, viele verfügten zumindest über eine rudimentäre, einige über eine ausgezeichnete Schulbildung (»Die Schule hier ist so viel leichter als die in Äthiopien!«, erklärte Helen.) Eine runde, strohgedeckte Hütte im ländlichen Äthiopien schien unglaublich weit von einer Dachterrassen-Wohnung in Chicago oder einer Doppelhaushälfte in Seattle entfernt zu sein, aber bei näherer Betrachtung war es gar nicht so. Abeltayit und Mekdelawit, die kleinen Schwestern, deren acht ältere Geschwister sie ins Layla House gebracht hatten, waren von Bob und Chris Little in Port Townsend, Washington, adoptiert worden. Eines Abends stand Chris, eine zierliche Frau mit einem blonden Bubikopf, an der Tür zum Zimmer der Mädchen und bekam zufällig mit, wie Mekdelawit, die jetzt Marta hieß, betete:
    »Danke, Gott, für meine Mama. Sie ist eine gute, gute Mama. Sie weiß, wie man eine gute Mama ist. Sie liebt mich, auch wenn ich böse. Sie liebt mich, auch wenn ich traurig. Sie liebt mich, auch wenn ich ungezogen. Meine Mama so lieb. Meine Mama nicht garstig. Aber wenn garstig, liebe ich sie. Ich liebe sie, auch wenn sie garstig. Ich liebe sie, auch wenn sie ganz, ganz garstig. Und sie liebt mich, wenn sie garstig. Aber sie ist es nicht, sie lieb. Danke, danke, Gott, für meine gute und liebe Mama.«
    Einige der Kinder waren auf dem Land aufgewachsen und kamen mit Stammeszeichen nach Amerika. Asrat Hehn, neun Jahre, hatte einen Löwen mit einer brennenden Fackel getötet, der in den Hof seiner Familie eindringen wollte. Stolz trug er eine rituelle Narbe über der Augenbraue, die ihm von seinem Dorf in Wolayta verliehen worden war und ihn zum Mann erklärte. Heute, sechs Monate nach seinem Eintreffen im Layla House, ging er in Puget Sound, Washington, in die fünfte Klasse. Immer wenn es regnete, riss Asrats Bruder Amanuel ein Blatt von einem Baum und formte daraus eine kleine Schale, aus der er trinken konnte.
    Der sieben Jahre alte Samuel, dessen Eltern an Malaria gestorben waren, vermisste sein kojenartiges Bett unter dem Dach der Rundhütte seiner Familie und das Trommeln des Regens auf dem Wellblech. Kurz nachdem er adoptiert worden war, auch von den Littles, fragte er seine Mutter höflich, ob er eine Kuh für sie zum Abendessen schlachten sollte. Sie lehnte dankend ab.
    Ababa, sieben Jahre alt, vermisste den doro wat - den Hühnereintopf - aus seiner Heimat. Seine amerikanische Mutter Anna brachte vakuumverpackte Hühnchenteile aus dem Supermarkt nach Hause.
    »Nein, du brauchst richtiges Huhn«, protestierte er.
    »Das ist richtiges Huhn«, erwiderte sie, aber er schüttelte energisch den Kopf. »Na gut, was ist denn ›richtiges Huhn‹?«
    »Äthiopisches Huhn, eines, dem man den Kopf abschneidet. Dann macht es Lärm. Rennt rum. Rennt ohne Kopf rum. Das ist richtiges Huhn.«
    Ein kleiner Junge namens Miseker war eines von Haregewoins Kindern gewesen. Im Alter von sieben Jahren flog er mit seinen neuen

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