Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
Vom Netzwerk:
Eltern nach Maryland. »An Heiligabend kamen wir zu Hause an«, erzählte seine Mutter Cathy Wingate. »Fast den ganzen ersten Tag über lief er durch die Zimmer und sah sich alles ganz genau an. Er entdeckte die Krippe auf einem Tisch. Wir waren ganz gerührt, als er das Jesuskind hochnahm und es küsste. Aber dieser Anflug von Zärtlichkeit war schnell vorbei, denn dann fiel sein Blick auf ein kleines Schaf, und er wurde ganz aufgeregt und sagte: ›Hmmm‹ und zog einen Finger wie ein Messer über seinen Hals.«
    Der frisch adoptierte Sohn der Littles fragte eines Abends beim Essen: »Warum sagt ihr eigentlich immer: ›Gott, säge diese Mahlzeit‹?«
    Wenige Tage nach der Ankunft unseres zehnjährigen Sohnes Fisseha aus Äthiopien im Mai 2004 entdeckten unsere anderen Kinder, dass er einen Speer durch ein fliegendes Plastik-Frisbee werfen konnte. »Mom!«, schrien sie, »das musst du dir ansehen!« Fisseha hatte in der Einfahrt eine dünne, weiße Metallstange für einen Fahrradwimpel gefunden und durchbohrte damit das fliegende Frisbee. Wenn Lee, fünfzehn Jahre alt, das Frisbee in Richtung eines Baumes warf, konnte Fisseha es mit der Stange aufspießen und an den Baum nageln. Am Abend des gleichen Tages schüttelte unser des Englischen unkundiges Kind den Kopf, als ich ihm ein Stück leckere Käselasagne anbot.
    »Nein, lieber nicht«, bemerkte unser ältester Sohn Seth, damals neunzehn. »Ich habe den Eindruck, er würde etwas selbst Erlegtes vorziehen.«
    Später schnitzte sich Fisseha seine Speere selbst, und er zog von den Bäumen Rinde ab, die er zu Schnüren drehte, aus denen er Schlingen und Peitschen flocht. Bevor er in dem amerikanischen Waisenhaus in Addis landete, war er Ziegenhirte auf der äthiopischen Zentralebene gewesen. Eines Tages kam er in die Küche, nahm ein großes Messer aus der Schublade und verschwand mit dem neunjährigen Jesse im Wald. Sie kehrten mit zwei frisch geschnittenen schlanken Angelruten über der Schulter zurück. »Schnur, Mom?«, rief Fisseha mit seiner lauten Stimme. Er akzeptierte ein Stück Bindfaden aus meinem Nähkasten und bog noch zwei Nägel zu Haken. Dann marschierte er mit Jesse auf der Suche nach einem vielversprechenden Gewässer über die Straße und den steilen Gehweg hinauf. Die beiden Jungen trugen ihre Angelruten über der Schulter. Ich sah ihnen durch das Küchenfenster nach und dachte: Wir haben Huckleberry Finn adoptiert.
    Marta Little, die Gott für ihre hübsche Mutter gedankt hatte, dachte sich ein Lied aus. Sie sang es mit ihrem zarten, hohen Stimmchen, und ihre Mutter Chris schrieb es auf:
    Meine eine Mami stirbt, meine eine Mami stirbt.
Mein einer Papi stirbt, mein einer Papi stirbt.
Ich traurig, ich traurig.
Jetzt die Mama stirbt nicht, jetzt die Mama stirbt nicht.
Jetzt der Papa stirbt nicht, jetzt der Papa stirbt nicht.
Ich glücklich, so glücklich.
Ich Kleider zum Anziehen, ich Essen
Ich gutes Haus, danke, lieber Gott.
Kitzlig, mein Papa,
Gutes Essen, meine Mama.
Danke, lieber Gott.
    Frew, acht Jahre alt, kam zu Adoptiveltern nach Alaska. Auf Fotos sah man den sonnigen, einstmals barfüßigen kleinen Jungen aus Addis Abeba breit grinsend in einem dicken Anorak mit Kapuze, Fäustlingen und Stiefeln zwischen seinen beiden rothaarigen Schwestern. »Ich habe ihn vorgestern Abend beten hören«, erzählte seine Mutter. »Er sagte: ›Danke dir, Familie mir.‹«
     
    Unsere Tochter Helen, die im Februar 2002 als Fünfjährige zu uns kam, gewann in Amerika rasch Freunde. Immer wenn sie eine neue Bekanntschaft schloss oder sich mit jemandem verabredete, hörte ich sie fragen: »Hast du eine Mutter?« Oder, wenn sie dazu zu schüchtern war, fragte sie mich flüsternd: »Hat sie eine Mutter?« Die meisten Kinder und Erwachsenen überraschte diese Frage - »Natürlich habe ich eine Mutter«, antworteten die Kinder. »Natürlich hat sie eine Mutter«, sagten die Erwachsenen.
    Nur unsere afrikanischen Freunde überraschte die Frage nicht. Zwar hatte auch Helen wieder eine Mutter, wie sie stets eilig versicherte, aber das war keine Selbstverständlichkeit mehr für sie.

45
    Nach zwei Wochen in Amerika bekam Haregewoin Heimweh. Sie machte sich um die Kinder zu Hause Sorgen. Sie vermisste Nardos und wünschte, sie hätte sie mitgenommen. (Das war ein wirklich gut erzogenes äthiopisches Kind!) Daher brach sie ihre Reise um die halbe Welt vorzeitig ab und flog zurück nach Addis, ein T-Shirt mit dem Aufdruck I LOVE NEW YORK unter ihrem Kleid.
    Sie kehrte

Weitere Kostenlose Bücher