'Alle meine Kinder'
»Ja.«
» Amerika «, seufzte Mekdes glücklich und ließ den Kopf auf die Decke sinken.
Wie sich zeigt, fällt es Kindern nicht besonders schwer, sich an Elektrizität und sanitäre Einrichtungen zu gewöhnen, sauberes Leitungswasser, moderne Medizin, Autos, Lebensmittel, gepflasterte Straßen, Spielplätze, Schulen, Schuhe, Fahrräder, Ballettunterricht und fürsorgliche Eltern. Viel schwerer, wenn nicht sogar unmöglich, ist für sie, ohne liebenvolle Ersatzeltern mit dem Tod ihrer Eltern fertig zu werden.
Abgesehen von ein paar normalen Rückschlägen, Phasen der Verwirrung und Trauer, verlief für Mekdes der Übergang in ihr neues Leben ohne Probleme. Kurz nach der Ankunft der Kinder wurde die Familie von ihren äthiopisch-amerikanischen Freunden Tarik und Saba in ein äthiopisches Restaurant eingeladen. In Atlanta leben dreißigtausend Äthiopier, und es existiert eine lebendige Gemeinschaft mit Kirchen, Märkten, Restaurants, Fußballmannschaften, Schüler- und Berufsverbänden und Festlichkeiten. In dem Restaurant mit den Speisen, den Menschen, den Kunstwerken und den Gerüchen Äthiopiens griff Yabsira mit beiden Händen zu. Mekdes war von der Umgebung dagegen wie betäubt, sie zog sich zurück und konnte nichts essen.
Als sie später wieder zu Hause war, spielte sie völlig verrückt; sie schrie und weinte und stampfte mit den Füßen auf. »Das ist kein Wutanfall«, sagte Ryan zu Mikki.
»Das ist Kummer«, sagte Mikki.
»Mekkie, Mekki, beruhige dich doch ein bisschen. Mekkie, kannst du Mommy sagen, was los ist?«
Nach Atem ringend und tränenüberströmt, schüttelte sie den Kopf, sie brachte kein Wort heraus.
»Mekdes, ist es wegen Äthiopien?«, fragte Mikki.
Mekdes zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen, dann blickte sie Mikki mit rot geweinten Augen an und nickte.
In dieser Nacht weinte Mekdes um ihre verlorene Heimat und ihre verlorene Familie, und ihre Eltern waren traurig. Aber Tarik und Saba wurden zu festen Größen in Mekdes’ Leben. Eines Tages nahmen sie Mekdes und ihren Bruder auf ein Fest anlässlich der Geburt eines neuen Kindes in der äthiopischen Gemeinde mit. Mekdes’ Urteil war vernichtend. »Das ist nicht das richtige Essen für ein Fest für ein neues Baby«, erklärte sie den beiden empört. »Sie spielen nicht die richtige Musik. Sie haben nicht die richtigen Kleider an.«
Abschließend sagte sie auf der Fahrt nach Hause zu Tarik auf Amharisch: »Mommy will, dass ich mit dir und Tante Saba äthiopische Sachen mache, also wenn ihr das nächste Mal kommt und uns abholt, müsst ihr mit uns zu echten Äthiopiern gehen.«
Yabsiar verlernte unterdessen sein Amharisch.
»Ich versuche, Äthiopien zu sprechen«, sagte er. »Aber wenn ich den Mund aufmache, kommt Amerika raus.«
Zwei Monate nach ihrer Ankunft in Atlanta fand eine Geburtstagsfeier für Mekdes statt. Wenn jemand sie danach fragte: »Wie gefällt es dir in Amerika, Mekdes?«, sagte sie jedes Mal: »Mekdes mag Amerika. Amerika macht Mekdes sechs.«
Eines Abends sagte Ryan beim Essen: »Heute Morgen hat mich Mekdes auf dem Weg zur Arbeit abgepasst. Sie hat gesagt: ›Ach, Daddy, du tust so viel für uns. Ich habe etwas für dich. Da, nimm das. Das ist für dich.‹
Sie hat mir einen Dollar gegeben.«
Stella Jones, Mikkis Mutter, rief: »Bei mir hat sie das Gleiche gemacht. Vor ein paar Tagen kam sie in mein Zimmer und sagte: ›Da, Granny. Kauf dir was.‹ Und dann hat sie mir fünfzig Cent gegeben.«
Mit Yabsira war es nicht so einfach, er bekam ständig Wutanfälle. Mehrere Male am Tag, wenn ihm etwas nicht passte - wenn er sich anziehen sollte und keine Lust dazu hatte, wenn er seine Zähne putzen sollte und keine Lust dazu hatte -, warf er sich wütend auf den Boden und zog Schuhe und Socken aus. Während Yabsira brüllte, lief Mekdes panisch hin und her. Auf Amharisch flehte sie Yabsira an, brav zu sein; auf Englisch bat sie Mikki und Ryan: »Yabsira nicht anschreien.«
»Ich weiß, dass sich die Leute fragen: ›Wie kommt es, dass ein Waisenkind aus einem bettelarmen Land verwöhnt ist?‹«, sagte Ryan zu Mikki. »Aber dieser Junge ist verwöhnt . «
Wenn Yabsira Mekdes verletzen wollte, dann kam er in ihr hübsches Zimmer und trat gegen die Wand, so dass sie anfing zu weinen. Aber sie wollte nicht, dass er bestraft wurde.
»Sie hat alle Hände voll zu tun«, sagte Mikki eines Abends zu Ryan. »Heute habe ich ihnen gesagt, sie sollen ihre Zimmer aufräumen. Sie fing sofort damit an,
Weitere Kostenlose Bücher