Alle meine Schuhe
hinunter und glitt vom Barhocker. Amy spürte, dass sie jeden Moment die Fassung verlor. Unter Schmerzen humpelte sie zur Toilette – dass sie dabei von gerade einsetzendem Applaus begleitet wurde, war irgendwie grotesk. Moon River war zu Ende. Die Sängerin knickste und warf verschwenderisch Kusshände in den Raum, während die Band die ersten Töne von Somewhere over the Rainbow anschlug.
Nur Augenblicke später, sicher in einer der Kabinen angekommen, legte Amy das Gesicht in beide Hände und weinte.
Sie weinte heiße, betrunkene, jämmerliche Tränen. Sie weinte um die Liebe, den Verlust und die Dummheit. Um schmerzende Knöchel, Enttäuschungen und Verrat. Aus Einsamkeit, Heimweh und aus reiner Wut. Sie weinte um ihren Dad, um ihre Mum und um sich selbst. Um Sergei, um alles, für was sie ihn gehalten hatte, und alles, was er jetzt zu sein schien, um Justin, um Phyllis, um Jack, um ihre Schuhe. Und auch, weil sie Debbie und Jes vermisste, und weil sie nicht wusste, was sie jetzt tun sollte.
Ich bin den ganzen weiten Weg umsonst hergekommen – abgesehen von der Entdeckung, dass meine Mutter nicht die war, für die ich sie hielt...
»Komm schon, Honey, kein Typ ist solche Tränen wert.« Eine schlanke schwarze Hand, perfekt manikürt mit langen rubinroten Fingernägeln und einem riesigen, herzförmigen Diamantring, schob sich unter der Kabinenwand durch und hielt ein paar Papiertaschentücher. Amy erschrak so, dass sie aufhörte zu schluchzen und wortlos auf die ungeduldig wedelnde Hand starrte. »Diese Haltung ist nicht gerade bequem für mich, weißt du?«
»D-danke«, stammelte Amy, beugte sich herunter und nahm die Taschentücher. »Tut mir leid.«
»Wie bitte? Du willst doch wohl nicht anfangen, dich bei mir zu entschuldigen, Honey. Klingt so, als hättest du schon mehr als genug Ärger am Hals! Jetzt trockne deine Tränen, sonst wirst du morgen früh fürchterlich aussehen. Noch so eine Sache, die du ganz bestimmt nicht willst – vertrau mir!«
»Okay«, murmelte Amy, wischte sich über die Augen und schnäuzte sich die Nase.
»Braves Mädchen.«
Amy atmete ein paar Mal tief durch und nach einem letzten Schluchzer war es vorbei.
»Soll ich jemanden für dich anrufen?«, fragte die Stimme auf der anderen Seite der Kabine.
»Nein, vielen Dank, es geht schon wieder.« Außerdem gibt es niemanden, den du anrufen könntest . »Du bist echt nett.«
»Dann schieß mal los«, sagte die Stimme mitfühlend. »Brauchst du vielleicht einen Auftragskiller, um den Typen zu erledigen, der dich so unglücklich gemacht hat?«
Amy erstarrte.
Aus der anderen Kabine drang lautes Seufzen. »Das war nur ein Scherz.«
»Ich weiß«, versicherte Amy ein bisschen zu hastig.
»Pass auf dich auf, hörst du. Lass dir so etwas nicht antun, okay?«
»Werde ich nicht – ich meine – danke …«, aber die Tür der Nebenkabine hatte sich geöffnet und war bereits wieder zugeknallt.
Wenige Augenblicke später war Amys seelisches Gleichgewicht so weit wiederhergestellt, dass sie ihre Tür entriegeln und zum Waschbecken humpeln konnte. Dort stand eine der Sängerinnen vom Tisch nahe der Bühne – langes, silbernes Kleid, wunderschöne dunkle Haut, perfekt manikürt … und an der Hand einen riesigen Diamantring in Herzform!
»Ich bin Amy«, sagte sie. »Danke.«
Die Frau, die gerade dabei war, sich die längsten falschen Wimpern abzuziehen, die Amy je gesehen hatte, wandte sich ihr lächelnd zu und enthüllte wunderschöne weiße Zähne und kohlrabenschwarze Augen. Sie beugte sich herüber und küsste Amy auf die glühende Wange.
»Ich bin Sparkle.«
25. Kapitel
D u meine Güte, da müssen wir aber etwas tun, nicht wahr?« Sparkle wühlte in ihrem Schminktäschchen, das geöffnet neben dem Waschbecken lag, und zog eine Tube Make-up-Entferner samt Wattepad heraus. Beides reichte sie Amy. »Am besten fängst du gleich an. Wenn du morgen früh nicht auch noch so verquollen aussehen willst, solltest du dich ans Werk machen.« Sie schaute auf Amys bandagierten Fuß. »Und Sorgen hast du schon genug, oder?«
Amy wagte einen Blick in den Spiegel, schnappte erschrocken nach Luft angesichts ihres verheulten Anblicks und schüttelte den Kopf. »Weinen ist lästig, nicht wahr?«, murmelte sie und fand, dass sie sich fürchterlich englisch und förmlich anhörte.
Aber Sparkle nickte und arbeitete weiter an ihren Wimpern. »Und wird völlig überschätzt!«
Die Reinigungslotion war eiskalt und brannte Amy in den Augen, als
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