Alle meine Schuhe
zu schmalen Schlitzen, dann seufzte sie und schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Studio ist nebenan. Kannst du nicht lesen?«
Dann knallte sie die Tür zu und schlich mit hängenden Schultern und wie in Zeitlupe zurück zur Treppe und murmelte etwas zu sich selbst.
Mom hätte mich umgebracht, wenn ich so mit Fremden gesprochen hätte!
In einem hatte das Mädchen jedoch nicht ganz Unrecht gehabt, denn als Amy auf den Bürgersteig zurücktrat und das danebenliegende Atelier betrachtete, sah sie ein großes Schild mit der Aufschrift: Kunst von Madeleine Hayes und daneben ein kleineres mit dem Hinweis: Geöffnet .
Vorsichtig drückte Amy die Tür auf, spähte hinein – und hielt überrascht den Atem an. Da, mitten in dem spartanischen, hell erleuchteten Raum stand eine riesige leuchtende Skulptur in Form eines … Stilettos!
Amy blinzelte und musste noch ein zweites Mal hinsehen. Ja, es war wirklich ein gigantischer Stiletto – sie hatte keine Halluzinationen.
An einer Seite des Raumes stand eine Frau, mit dem Rücken zu Amy, vor einer massiven Werkbank und bearbeitete mit heftigen Hammerschlägen ein Stück Metall.
Amy hatte noch nicht die Verwunderung über die riesige Schuhskulptur verdaut, da kämpfte sie bereits mit dem Anblick einer knallorangen Latzhose über einem schlabberigen, lila T-Shirt, Doc Marten-Boots – trotz der glühenden Hitze draußen – und muskulösen Armen, die vom Bizeps bis zum Handgelenk tätowiert waren.
Amy schob sich ganz in das Atelier hinein und schloss leise die Tür. Bei jedem Hammerschlag, der auf ihr Trommelfell einstürmte, zuckte sie zusammen.
»Ja! Du hübsches Ding!« Die Frau hielt das Metallstück, das sie bearbeitet hatte, vor sich in die Höhe, streichelte darüber, pustete Staub weg und strahlte sichtlich zufrieden. Ohne Amy bemerkt zu haben, setzte sie etwas auf, das aussah wie eine Fliegerbrille aus dem Ersten Weltkrieg, zog dicke Handschuhe an und schnappte sich einen riesigen Schneidbrenner. Sie drehte am Griff einer Gasflasche, die neben ihr stand, und zündete den Brenner an. Sofort schoss eine blaue Flamme in die Höhe.
»Okay!«, rief die Frau. »Los geht’s, Baby!«
Sie sieht eher aus wie eine verrückte Wissenschaftlerin und nicht wie eine übergeschnappte Künstlerin. Ein Schneidbrenner! Ich möchte nicht am falschen Ende von dem Ding stehen, das ist mal sicher! Wenn ich nicht einen ganzen Kontinent überquert hätte, um mit dieser Person zu sprechen, wäre ich durch diese Tür, bevor …
In dem Moment drehte sich die Frau um und erblickte Amy.
»Bin gleich bei dir!«, schrie sie durch die Funken des Schneidbrenners und einer Wolke krausen, grau melierten Haares hindurch, das über und unter der Brille vorlugte. Sie sah wie einem Zeichentrickfilm entsprungen und längst nicht mehr bedrohlich aus.
Der Schneidbrenner wurde so plötzlich abgeschaltet, wie er zum Leben erweckt worden war, und auf einmal war der Raum in Stille getaucht, die fast genauso erschreckend war wie das Hämmern kurz zuvor. Die Frau zog die anthrazitfarbenen Stulpenhandschuhe aus, schob die Brille hoch, so dass diese oben auf ihrer Stirn saß und kam mit ausgestreckter Hand auf Amy zu. Sie lächelte breit und enthüllte dabei kleine, ein bisschen schief stehende Zähne.
»Madeleine Hayes, freut mich!«
»Amy Maa-aaaargh-sh! Ganz schön kräftiger Händedruck!«
»Sagen die Leute mir ständig – tschuldigung! Zwanzig Jahre mit Metall zu arbeiten verändert ein Mädchen.«
»Scheint aber Spaß zu machen«, bemerkte Amy. »Dieser Schuh ist echt klasse.« Ein einziger Strahler beleuchtete die geschwungenen Formen der Skulptur.
»Danke, weiß ich zu schätzen.«
»Hat es einen Namen?« Amy war nicht sicher, ob das eine dumme Frage war; ihr Wissen in puncto moderner Kunst würde bequem auf einer Briefmarke Platz finden.
»Noch nicht«, antwortete Madeleine. »Ursprünglich wollte ich es Der Fußsoldat nennen, denn es ging mir um das Erforschen der Mechanismen, die unsere Wahrnehmung von Schönheit steuern, aber nachdem das Objekt fertig war, hatte es eine ganz eigene Persönlichkeit entwickelt, ein Selbstbewusstsein …«
»Ja! Das kann ich sehen!«, rief Amy aufgeregt. »Es scheint zu sagen: Wenn du wissen willst, was mich treibt, musst du darum bitten .« Sie klatschte in die Hände und war gefangen von der Schönheit der Schuhskulptur. Bis ihr plötzlich einfiel, dass sie ja gar keine Ahnung von moderner Kunst hatte und soeben der Künstlerin mitgeteilt
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