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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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zu haben.»
    «Soll das ein Handel sein?»
    «Fassen Sie es auf, wie Sie wollen.»
    «Meine Freundschaft kann man nicht kaufen», sagte sie.
    «Wir werden noch darauf zurückkommen», sagte ich. «Denken Sie einmal darüber nach.»
    «Da gibt es nichts nachzudenken.»
    Ich wies auf Bompard, der auf einer Bergère mehr lag als saß und vor sich hin döste. «Sehen Sie den dicken Kahlkopf dort?»
    «Ja.»
    «Als ich vor ein paar Jahren nach Paris kam, war er ein ehrgeiziger und hochbegabter junger Mann: ich war damalsein unwissender Wilder, und er hat versucht, mich hineinzulegen. Sehen Sie sich an, was ich aus ihm gemacht habe.»
    «Bei Ihnen wundert mich so etwas nicht.»
    «Ich erzähle es Ihnen auch gar nicht, damit Sie sich wundern, sondern nur, um Ihre Nachdenklichkeit anzuregen.»
    In diesem Augenblick sah ich den Comte de Saint-Ange aus dem Salon treten; er wankte mühsam vorwärts wie ein Betrunkener.
    «Bompard!» rief ich.
    Bompard fuhr zusammen; ich war gern Zeuge seines Erwachens; er fand sich dann wieder mitten in seinem Leben, und er fand mich darin, und dann kam es ihm zum Bewußtsein, daß er mich bis ans Ende seines Lebens stets auf dem Posten finden würde.
    «Wir wollen ihm nachgehen», sagte ich.
    «Wozu denn?» fragte Bompard.
    «Er muß mir morgen früh 20   000   Taler zurückgeben; er hat sie aber nicht. Ich frage mich, ob er so dumm ist, sich das Leben zu nehmen.»
    «Sicher», sagte Bompard. «Was soll er weiter tun?»
    Wir folgten Saint-Ange durch den Hof des Hôtel Montesson, und Bompard fragte mich:
    «Wie kann Ihnen so etwas noch Spaß machen? Haben Sie in fünfhundert Jahren noch nicht genug Tote gesehen?»
    «Er kann zu Schiff nach Indien gehen, an den Landstraßen betteln; er kann mich zu töten versuchen. Er kann auch entehrt, aber ruhig in Paris wohnen bleiben.»
    «Er wird von alldem nichts tun», rief Bompard.
    Ich zuckte die Achseln: «Du hast sicher recht. Sie tun immer dasselbe.»
    Saint-Ange war in die Gärten des Palais-Royal eingetreten, er schritt rings durch die Galerie. Ich verbarg mich hinter einem Pfeiler; gern sah ich Fliegen und Spinnen zu, den zuckenden Bewegungen der Frösche, den gnadenlosenKämpfen von Käfern untereinander, aber am liebsten wohnte ich den Seelenkämpfen eines Menschen bei. Nichts zwang ihn, sich umzubringen, und wenn er nicht sterben wollte, so brauchte er nur zu beschließen: Ich werde mich nicht töten.
    Ich hörte einen Schuß und darauf ein klatschendes Geräusch. Ich trat näher heran. Immer die gleiche Enttäuschung. Solange sie lebten, war ihr Tod ein Ereignis, dem ich mit Spannung entgegensah; stand ich aber vor ihrer Leiche, so war mir, als hätten sie nie existiert; ihr Tod bedeutete nichts.
    Wir verließen die Gärten, und ich sagte zu Bompard:
    «Weißt du, was der übelste Streich wäre, den du mir spielen könntest?»
    «Nein.»
    «Dir eine Kugel durch den Kopf zu schießen. Hattest du dazu noch niemals Lust?»
    «Es würde Sie zu sehr freuen», sagte er.
    «Nein. Ich wäre sehr enttäuscht.» Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. «Ein Glück, daß du zu feige bist», sagte ich. «Du wirst mir noch lange erhalten bleiben: bis du in deinem Bett stirbst.»
    In seinen Augen zuckte etwas auf: «Sind Sie ganz sicher, daß Sie niemals sterben werden?»
    «Mein armer Bompard. Niemals werde ich sterben. Niemals werde ich die bewußten Papiere verbrennen. Niemals wirst du frei sein.»
    Sein Blick erlosch.
    Ich wiederholte: «Niemals. Das ist ein Wort, dessen Sinn niemand kennt. Nicht einmal du.»
    Er gab keine Antwort.
    «Gehen wir nach Hause», sagte ich. «Wir wollen arbeiten.»
    «Sie wollen wieder die Nacht aufbleiben?»
    «Aber sicherlich.»
    «Ich aber möchte schlafen.»
    Ich lächelte und sagte: «Gut! Du kannst schlafen.»
    Ihn zu quälen machte mir fast kein Vergnügen mehr: ich hatte sein Leben ruiniert, aber er hatte sich daran gewöhnt; alle Nächte schlief er und vergaß. Die schlimmsten Katastrophen hinderten ihn nicht daran, abends zu Bett zu gehen und zu schlafen. Saint-Ange hatte vor Angst gezittert, aber jetzt war er tot, er war mir ausgekommen; für sie gab es immer ein Mittel, sich allem zu entziehen. Auf dieser Erde, an die ich gekettet war, wog Unglück nicht schwerer als Glück, und Haß war ebenso lustlos wie Liebe. Man gewann nichts dabei.
    Der Wagen führte uns nach Hause zurück, und ich ging ins Laboratorium. Niemals hätte ich es verlassen sollen. Hier allein, fern von menschlichen Gesichtern,

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