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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Glyzinien auf ihren Schoß gelegt und zerrupfte die Blüten mit ihren mageren Fingern.
    «In meinem Herzen», sagte ich, «wirst du länger leben als jemals in dem Herzen eines sterblichen Menschen.»
    «Nein», gab sie mit Schärfe zurück. «Wenn du sterblich wärst, würde ich mit dir leben bis zum Ende der Welt, denn dies Ende der Welt würde dein Tod bedeuten für mich. So sterbe ich in einer Welt, die niemals untergeht.»
    Ich gab ihr keine Antwort. Ich konnte keine geben.
    «Was wirst du nachher tun?» fragte sie.
    «Ich werde versuchen, das zu wollen, was du gewollt hättest, und zu handeln, wie du gehandelt hättest.»
    «Versuche ein Mensch unter Menschen zu bleiben», sagte sie zu mir. «Es gibt kein anderes Heil für dich.»
    «Ich will es versuchen», sagte ich. «Jetzt sind die Menschen mir lieb, als deine Schicksalsgefährten.»
    «Hilf ihnen», sagte sie. «Stelle deine Erfahrungen in den Dienst der Menschen.»
    «Ich will es tun», sagte ich.
    Sie sprach oft zu mir von meiner traurigen Zukunft. Aber sie konnte sie ja nicht anders sehen, als sie sich im Herzen einer Sterblichen malte.
    «Versprich es mir», sagte sie.
    Etwas von der alten Glut blitzte in ihren Augen.
    «Ich verspreche es», sagte ich.
    Eine Wespe ließ sich summend auf den Blüten nieder; von fernher brüllte eine Kuh.
    «Dies wird vielleicht», sagte sie, «mein letzter Sommer sein.»
    «Sprich nicht so», bat ich sie.
    «Jedenfalls kommt ein Sommer, der mein letzter sein wird.» Sie schüttelte leise den Kopf. «Ich beneide dich nicht. Doch auch du solltest mich nicht beneiden.»
    Wir saßen lange am Fenster, unfähig, einander zu helfen, schon endgültiger getrennt, als wenn einer von uns bereits gestorben wäre; wir konnten zusammen nichts mehr unternehmen, kaum miteinander reden. Und dennoch liebten wir uns mit einer verzweifelten Liebe.
     
    «Trage mich ans Fenster», bat Marianne mich. «Ich möchte zum letztenmal den Sonnenuntergang sehen.»
    «Aber es wird dich ermüden.»
    «Ich bitte dich. Zum letztenmal.»
    Ich schlug die Decken zurück und hob sie auf meinen Armen heraus. Sie war so abgemagert, daß sie nicht mehr wog als ein Kind. Sie schob den Vorhang vom Fenster zurück.
    «Ja», sagte sie. «Ich erinnere mich. Es war immer so schön.» Dann ließ sie den Vorhang fallen. «Für dich wird alles weitergehen», fügte sie schluchzend hinzu.
    Ich bettete sie wieder zurück; ihr Gesicht war gelb und wie zerdrückt; man hatte ihr das Haar abgeschnitten, weil sein Gewicht zu schwer für sie war; ihr Kopf war so klein geworden,daß er mich an die einbalsamierten Köpfe auf dem indianischen Dorfplatz erinnerte.
    «So vieles wird geschehen», sagte sie. «So viele große Dinge. Und ich werde sie nicht sehen!»
    «Du kannst der Krankheit noch sehr lange Widerstand leisten. Der Arzt hat uns gesagt, dein Herz sei sehr gesund.»
    «Lüge nicht!» rief sie heftig aus. «Du hast mich genug belogen! Ich weiß, daß es zu Ende ist. Ich gehe und gehe allein. Du aber bleibst zurück, ohne mich und für immer.» Sie fing leidenschaftlich zu schluchzen an. «Ganz allein! Ganz allein läßt du mich diesen Weg antreten!»
    Ich nahm ihre Hand und drückte sie stark. Was hätte ich darum gegeben, zu ihr sagen zu können: Ich sterbe mit dir! Im selben Grab wird man uns zur Ruhe betten, wir haben unser Leben gehabt, und nun bleibt nichts mehr davon!
    «Morgen», sagte sie, «wird die Sonne untergehen, und ich bin nirgends mehr. Nur mein Körper wird noch sein. Und wenn du eines Tages meinen Sarg öffnen läßt, wirst du nichts darin finden als ein wenig Asche. Selbst die Knochen werden zu Staub zerfallen sein. Die Knochen sogar   …» wiederholte sie. «Für dich hingegen wird alles ebenso weitergehen, als wäre ich nie gewesen!»
    «Ich werde mit dir leben, durch dich   …»
    «Du wirst ohne mich leben. Und der Tag wird kommen, wo du mich vergessen hast. Ach!» rief sie schluchzend aus. «Es ist ungerecht!»
    «Ich wünschte, ich könnte mit dir sterben», sagte ich.
    «Aber du kannst nicht», gab sie zurück.
    Schweiß strömte über ihr Gesicht, ihre Hand war feucht und kalt.
    «Wenn ich noch denken könnte: in zehn Jahren, in zwanzig Jahren folgt er mir nach, so wäre es für mich weniger hart zu sterben. Aber nein, niemals. Du läßt mich für immer im Stich.»
    «Unaufhörlich», sagte ich, «werde ich an dich denken.»
    Doch offenbar hörte sie mich nicht; sie war erschöpft in ihre Kissen zurückgesunken und murmelte: «Ich

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