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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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hinab. Ich lief hinter ihm her. Auf dem Platz schwenkten sie Trikoloren, und einige Stimmen riefen noch: «Es lebe die Republik!», aber die meisten schwiegen; sie starrten zu den Fenstern des Hôtel de Ville empor und wußten nicht, was tun. Armand machte ein paar Schritte und hielt sich an einer Laterne fest wie ein Betrunkener; seine Beine zitterten. Er weinte. Er weinte, weil er besiegt und weil sein Leben gerettet war. Er lag auf einem Bett mit einem Loch im Leib, er war Sieger, und er war tot; und er lächelte. Auf einmal erhob sich ein großes Geschrei: «Es lebe La Fayette! Es lebe der Herzog von Orléans!» Armand hob den Kopf, er sah den General und den Herzog auf dem Balkon des Hôtel de Ville einander umarmen, von den Falten der Trikolore umweht.
    «Gewonnen!» sagte er. In seiner Stimme lag weniger Zorn als tiefe Müdigkeit. «Sie hatten kein Recht dazu. Es war unsere einzige Chance!»
    «Ein unnützer Selbstmord», sagte ich kurz. «Was ist der Herzog? Nichts. Sein Tod würde gar nichts ändern. Die Bourgeoisie ist entschlossen, diese Revolution unter den Tisch fallen zu lassen, und es wird ihr gelingen, denn das Land ist nicht reif für eine Republik.»
    «Hören Sie nur!» rief Armand. «Sie lassen sich gängeln wie Kinder. Wird ihnen denn nicht endlich jemand die Augen öffnen?»
    «Sie sind selber wie ein Kind», sagte ich und rührte ihn ander Schulter an. «Denken Sie, ein Aufstand von drei Tagen genügt, um ein Volk zu erziehen?»
    «Sie wollten die Freiheit», warf Armand ein, «sie haben doch ihr Blut für die Freiheit gegeben.»
    «Sie haben ihr Blut gegeben. Aber wissen sie denn, warum? Sie wissen nicht, was sie wollen.»
    Wir waren ans Ufer der Seine gelangt; mit gesenktem Kopf ging Armand neben mir her; er war so müde, daß er kaum die Füße hob.
    «Noch gestern», sagte er, «schien der Sieg in unseren Händen zu sein.»
    «Nein», sagte ich. «Noch niemals seid ihr siegreich gewesen, denn niemals wart ihr imstande, den Erfolg auszunutzen! Ihr wart nicht bereit.»
    Ein weißes Chorhemd, vom Wasser aufgebauscht, schwamm die Seine hinab. Ein Boot mit schwarzem Wimpel lag am Quai vor Anker; Männer brachten Bahren herbei und setzten sie am Flußufer ab, und der Geruch stieg zu der schweigenden Menge am Brückengeländer auf, der Geruch von Rivello, von den Plätzen Roms, von den Schlachtfeldern, der Geruch der Siege und Niederlagen, so schal nach dem Rausch des Blutes. Sie häuften die Leichen auf das Boot und breiteten Stroh darüber.
    «Sie sind also für nichts gestorben», sagte Armand.
    Ich warf einen Blick auf das gelbe Stroh, unter dem menschliches Fleisch in Fäulnis überging, schon von Würmern zerstört. Für die Menschlichkeit, die Freiheit, den Fortschritt, das Glück gestorben; gestorben für Carmona, für das Reich, gestorben für eine Zukunft, die nicht die ihre war, gestorben, weil schließlich der Tod immer das Ende ist, gestorben, ja, für nichts. Aber ich sprach die Worte nicht aus, die mir auf die Lippen kamen; ich hatte gelernt, wie man zu ihnen sprechen muß.
    «Sie sind für die Revolution von morgen gestorben»,sagte ich. «Während dieser drei Tage hat das Volk seine Macht entdeckt; es versteht sie noch nicht zu benutzen, aber morgen wird es wissen, wie man sich ihrer bedient. Und es wird auch wissen, ob Sie daran tätig sind, die Zukunft vorzubereiten, oder sich unnütz zum Märtyrer machen.»
    «Sie haben recht», sagte er. «Was die Republik jetzt braucht, sind nicht Märtyrer.»
    Einen Augenblick stand er noch an die Quaimauer gelehnt, die Blicke starr auf das Totenschiff geheftet, dann wandte er sich um: «Ich möchte bei der Zeitung vorbeigehen», sagte er.
    «Ich gehe mit Ihnen», sagte ich.
    Wir verließen die Quais. An der nächsten Straßenecke trafen wir einen Mann, der gerade dabei war, einen Anschlag an die Mauer zu kleben. In großen schwarzen Lettern stand da: «Der Herzog von Orléans ist kein Bourbone, sondern ein Valois.» Etwas weiter hin bemerkten wir an einem Lattenzaun ein halb heruntergerissenes republikanisches Manifest.
    «Gar nichts machen können!» rief Armand aus. «Wo wir gestern noch alles erreichen konnten!»
    «Geduld», sagte ich. «Vor Ihnen liegt noch ein ganzes Leben.»
    «Ja, dank Ihnen», gab er mit einem Versuch zu lächeln zurück. «Wie haben Sie das erraten?»
    «Ich habe selber gesehen, wie Sie Ihren Revolver luden. Es ist nicht so schwer, in Ihren Gedanken zu lesen.»
    Wir überquerten die Straße.
    Armand blickte mich

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