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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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war mir wohler; wenn wir getrennt waren, konnten wir eher in der Vorstellung leben, wir würden uns wiederfinden.
    Eine Kuh war an einem Baum stehengeblieben und rieb ihren Kopf gegen den Stamm; ich versuchte mir vorzustellen, ich sei diese Kuh; ich spürte an meiner Wange das Kratzen der rauhen Rinde, und in meinem Leib war grüne Dunkelheit; die Welt war eine unendliche Wiese, die durch Mund und Augen allmählich in mich überging; das konnteewig dauern. Warum war ich nicht imstande, unter dieser Buche wunschlos, bewegungslos ewig liegen zu bleiben?
    Die Kuh blieb vor mir stehen und sah mich mit rotbewimperten Augen an; den Bauch von frischem Gras geschwellt, betrachtete sie ruhevoll dies geheimnisvolle Etwas, das da war und zu nichts diente; sie sah mich an und sah mich doch nicht, sie blieb eingeschlossen in ihre Wiederkäuerwelt. Und ich betrachtete die Kuh, den seidenglatten Himmel, die Pappeln, das golden schimmernde Gras: was sah ich? Ich war eingeschlossen in meine Menschenwelt, gefangen in alle Ewigkeit.
    Ich streckte mich auf dem Rücken aus und blickte zum Himmel empor. Nie würde es mir gelingen, darüber hinauszugelangen; gefangen in meinem eigenen Sein, würde ich rings um mich her auf immer nur die Wände eines Kerkers sehen. Von neuem wandte ich meinen Blick der gleichen Wiese zu. Behaglich kauend hatte die Kuh sich auf den Rasen gelegt. Ein Kuckuck rief zweimal; dieser friedliche Ruf, der nichts herbeirief, versank in der tiefen Stille. Ich stand auf und schritt langsam dem Haus zu.
    Marianne saß in ihrem Boudoir neben dem offenen Fenster; sie lächelte mir zu; es war ein mechanisches Lächeln, aus dem das Leben entwichen war.
    «Hast du gut gearbeitet?»
    «Ich habe noch einmal das Experiment von gestern wiederholt. Du hättest mir helfen sollen. Du wirst träge neuerdings.»
    «Wir haben es nicht mehr so eilig», antwortete sie. «Du hast ja so viel Zeit.» Sie verzog ein wenig den Mund. «Ich bin immer so müde.»
    «Geht es noch nicht besser?»
    «Es ist immer dasselbe.»
    Sie klagte jetzt über Schmerzen im Leib; sie war sehr mager geworden, und ihre Haut war gelb. Zehn Jahre, zwanzigJahre   … Jetzt rechnete ich mit Jahren und ertappte mich zuweilen bei dem Gedanken: Wenn es doch schnell geschähe! Der Tag, an dem sie mein Geheimnis erfahren hatte, war der Beginn ihrer Agonie.
    «Was soll ich Henriette für eine Antwort geben?» fuhr sie nach einer Weile fort.
    «Bist du dir noch nicht einig?»
    «Nein. Ich denke Tag und Nacht darüber nach. Es ist eine ernste Sache.»
    «Liebt sie denn diesen Mann?»
    «Wenn sie ihn liebte, würde sie mich nicht um Rat fragen. Aber vielleicht wird sie mit ihm glücklicher sein, als sie mit Louis war   …»
    «Vielleicht», sagte ich.
    «Wenn sie ein anderes Leben hätte, wäre sie sicher ganz anders, meinst du nicht auch?»
    «Sicher», sagte ich.
    Wir hatten die gleiche Unterhaltung schon wenigstens zwanzigmal geführt, und Marianne zuliebe hätte ich mich gern lebhafter dafür interessiert. Aber was lag schon daran? Ob Henriette bei ihrem Gatten blieb oder ihrem Liebhaber folgte, sie würde auf jeden Fall immer Henriette sein.
    «Es ist nur, wenn sie weggeht, behält Louis die Kleine. Und was für ein Leben wird das Kind dann haben?» Marianne sah mich an. Es lag jetzt etwas Besessenes und Unruhiges in ihrem Blick. «Wirst du dich um sie kümmern?»
    «Das werden wir beide zusammen tun.»
    Sie zuckte die Achseln: «Du weißt, daß ich bald nicht mehr da sein werde.» Sie streckte ihre Hand aus und pflückte vom Fensterrahmen eine Glyzinientraube. «Es würde doch eine gewisse Sicherheit bedeuten, daß du noch da sein wirst, immer da sein wirst. Haben die anderen auch gedacht, es sei eine Sicherheit?»
    «Welche anderen?»
    «Caterina, Beatrice.»
    «Beatrice liebte mich nicht», sagte ich. «Und Caterina hoffte sicherlich, bei Gott schließlich zu erreichen, daß ich eines Tages zu ihr in den Himmel käme.»
    «Hat sie dir das gesagt?»
    «Ich weiß es nicht; aber sicher hat sie es gedacht.»
    «Du weißt es nicht? Erinnerst du dich nicht mehr?»
    «Nein», sagte ich.
    «An welche Worte kannst du dich noch erinnern?»
    «Oh, an einige noch.»
    «Und ihre Stimme? Hast du die noch im Ohr?»
    «Nein», gab ich zu. Ich berührte Mariannes Hand. «Ich habe sie nicht so geliebt wie dich.»
    «Oh! Ich weiß, daß du auch mich eines Tages vergessen wirst», sagte sie. «Es ist auch besser so. So viele Erinnerungen müssen ja auf dir lasten.»
    Sie hatte die

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