Alle Menschen sind sterblich
Frau wusch mit einem Stück Sackleinwand den Boden des Speisesaals auf; Regine und Fosca setzten sich an einen der wachstuchbedeckten Tische.
«Haben Sie vielleicht etwas zu trinken?» fragte Regine.
Die Frau hob den Kopf, wrang den feuchten Lappen über einem Eimer mit schmutzigem Wasser aus und begann plötzlich zu lächeln.
«Ich könnte Ihnen so etwas wie einen Milchkaffee geben.»
«Recht heiß», sagte Regine. Dann blickte sie wieder zu Fosca hin. «Vor zwei Jahrhunderten», sagte sie, «war es Ihnen also doch noch möglich zu lieben.»
«Noch vor zwei Jahrhunderten, ja.»
«Und natürlich haben Sie Marianne gleich vergessen?»
«Nicht gleich», antwortete er. «Eine ganze Zeitlang habe ich unter ihren Blicken gelebt. Ich habe über die Tochter von Henriette gewacht: ich habe sie aufwachsen, sich verheiraten, endlich sterben sehen; sie ließ einen kleinen Jungen mit Namen Armand zurück, und auch über ihn habe ich gewacht. Henriette starb, als das Kind fünfzehn Jahre alt war. Sie war eine selbstsüchtige und harte alte Frau, die mich haßte, weil sie mein Geheimnis kannte.»
«Aber haben Sie noch oft an Marianne gedacht?»
«Die Welt, in der ich lebte, war ja ihre Welt, und alle waren Menschen wie sie: indem ich für sie arbeitete, arbeitete ich für Marianne. Auf diese Weise habe ich fast fünfzig Jahre verbracht: ich habe weiter Forschungen auf dem Gebiet der Physik und Chemie angestellt.»
«Aber tot», bemerkte Regine, «war sie deswegen doch.»
«Hätte ich sie denn irgendwie davor bewahren können?»
«Nein», gab Regine zu, «das war sicher nicht möglich.»
Die Bedienerin stellte eine Kaffeekanne, einen Topf mit Milch und zwei große rosa, mit blauen Schmetterlingen dekorierte Tassen auf den Tisch. Genau wie die Tassen in meiner Kinderzeit, dachte Regine. Der Gedanke ging ihr nur ganz mechanisch durch den Kopf, denn schon hatten diese Worte keine Bedeutung mehr für sie: sie hatte schon keine Kindheit und keine Zukunft mehr; auch für sie gab es keine Farben, keine Düfte, kein Licht. Fosca hatte ihre Tasse gefüllt, und sie führte sie an den Mund. Das war etwas, was sie noch fühlen konnte, das Brennen des heißen Getränks am Gaumen, in der Kehle. Sie trank gierig aus.
«Die Geschichte», sagte Fosca, «ist beinahe zu Ende.»
«Erzählen Sie», sagte sie. «Erzählen Sie sie bis zum Schluß.»
Fünfter Teil
Irgendwo aus der Tiefe der Korridore hörte man Trommelwirbel, und alle Blicke wendeten sich der Eingangspforte zu. In Brennands Augen standen Tränen; Spinelli preßte die Lippen zusammen, und sein Adamsapfel stieg in seinem mageren Hals zuckend auf und nieder; Armand hatte seine Hand in die Rocktasche versenkt; unter dem schwarzen Bart, der Wangen und Kinn umgab, war sein Gesicht sehr blaß. Die Fenster waren geschlossen, aber vom Platz her hörte man Rufe schallen: «Keine Bourbonen mehr! Es lebe die Republik! Es lebe La Fayette!» Es war sehr warm; auf Armands Stirn stand Schweiß, aber ich wußte, daß ein kalter Schauer ihm über den Rücken lief. Jetzt konnte ich lesen in ihnen; ich fühlte die Kälte des Metalls in seiner feuchten Hand, das kühle Metall des Balkongitters in der meinigen. Sie riefen: «Es lebe Antonio Fosca! Carmona lebe hoch!» Eine Kirche brannte lodernd in der Nacht, der Sieg flammte hell am Himmel auf, und die schwarze Asche der Niederlage fiel auf mein Herz wie ein Regen; in der Luft lag ein Geschmack von Verlogenheit. Ich krampfte meine Hände um die Balustrade und dachte: Vermag ein Mensch denn nichts? Er faßte fest den Revolvergriff und dachte: Ich kann etwas tun. Er war bereit zu sterben, um es sich zu beweisen.
Das Trommeln hörte mit einemmal auf. Man hörte Geräusch von Schritten, und ein Mann erschien; er lächelte, aber er war bleich, ebenso bleich wie Armand; unter der Trikolore über seiner Brust pochte ihm heftig das Herz; sein Mund war ausgetrocknet. La Fayette ging neben ihm her. Armands Hand kam langsam aus der Tasche hervor; ich faßte ihn beim Handgelenk.
«Es hat keinen Zweck», sagte ich. «Ich habe sie entladen.»
Im Saal hatte sich eine gewaltige Stimme erhoben: die Stimme des Meeres, des Windes, der ausbrechenden Vulkane; der Mann ging an uns vorbei; ich preßte heftig Armands Hand, und unter dem Druck meiner Finger wurde sie ganz weich; ich nahm ihm den Revolver fort. Er sah zu mir hin, und ein feines Rot stieg in seinen Wangen auf.
«Das ist Verrat», sagte er.
Er ging auf die Ausgangstür zu und eilte die Treppe
Weitere Kostenlose Bücher